Peter Radtke

Theaterkritik und »Behinderung auf der Bühne«

Eine Herausforderung

"Wer kann, der kann; wer nicht kann, wird Kritiker", so umschreibt George Tabori in seiner Farce "Goldbergvariationen" den bestgehaßten Berufsstand des Theatermetiers. Als behinderter Schauspieler, Stückeschreiber und Regisseur sehe ich mich Tag für Tag einer doppelten Herausforderung ausgesetzt: ich muß einerseits ein skeptisches Publikum überzeugen, habe mich andererseits aber auch einer professionellen Feuilletonkritik zu stellen. Fünfzehn Jahre Bühnenerfahrung haben mich dabei zweierlei gelehrt: 1. der einfache Theaterbesucher steht dem Experiment "Behinderter Darsteller auf der Bühne" in der Regel wesentlich aufgeschlossener gegenüber als der sogenannte Fachmann, und 2. die Kritik eines Rezensenten sagt fast immer mehr über ihn selbst aus als über die begutachtete Aufführung.

Als ich 1978 in Michael Blenheims Stück "Licht am Ende des Tunnels" zusammen mit anderen Behinderten erstmals öffentlich auftrat, fand eine renommierte deutsche Tageszeitung keinen besseren Kritiker für die Vorstellung als einen ehemaligen Schauspieler, der aufgrund einer Krankheit mittlerweile selber auf den Rollstuhl angewiesen war. Zwar hatte er sich bis dato kaum als Kenner in puncto Berichterstattung über Theaterereignisse hervorgetan, doch wurde die Tatsache, daß er selbst betroffen war, unter diesen Umständen anscheinend bereits als ausreichender Qualitätsnachweis angesehen. Die Übertragung der Aufgabe machte schon damals deutlich, welch enorme Berührungsängste auf künstlerischem Gebiet zu behinderten Darstellern bestanden und noch immer bestehen. Auch die übrigen Zeitungen schickten vorwiegend Mitarbeiter aus dem Lokalbereich, da eine Einordnung des Geschehens ihnen offensichtlich äußerst schwer fiel. Die Rezensionen waren wohlwollend bis enthusiastisch, handelte es sich doch um eine Veranstaltung, die sich innerhalb eines klar umgrenzten, behindertenspezifischen Rahmens bewegte. Zwar setzte sich die Theatergruppe aus behinderten Laien und nichtbehinderten Profis zusammen, aber sie beschränkte sich auf ein Insider-Thema, sprach vor allem Menschen mit einer Behinderung sowie ihre Bezugspersonen an und erhob nicht den Anspruch, Sehgewohnheiten des Theaters prinzipiell in Frage zu stellen. Die Reaktion ähnelte dem bekannten Apartheids-Schema: Jedem seine Subkultur; warum nicht auch den Behinderten?

Die gleiche ambivalente Verhaltensweise von Gewogenheit und Nichternstnehmen seitens der offiziellen Kritik begleitete auch noch über weite Strecken meine nachfolgenden Auftritte bis 1985. Inszenierungen des "Münchner Crüppel Cabarets" und die Uraufführung meines Monologs "Nachricht vom Grottenolm" seien in diesem Zusammenhang erwähnt. Erst als ich in George Taboris "M" mein Debüt an den Münchner Kammerspielen gab, wurde die Fachwelt hellhörig. Helmut Schrödel meinte in der "Zeit": "Die Behinderung wird als Metapher mißbraucht, verkitscht und verkünstelt." Gerhard Stadelmaier schrieb in der Stuttgarter Zeitung: "Ursula Höpfner und Arnulf Schumacher sind rezensierbar. P.R., welcher den Sohn spielt, ist es nicht. Er befindet sich außerhalb jeder Theaterkritik". Zusammenfassend fährt er fort, "Theater darf viel. Das darf es nicht". Nun mag man über künstlerische Leistungen geteilter Auffassung sein. Gerade dies macht schließlich lebendige, provokative Kritik aus. Doch in Wirklichkeit geht es, wie Stadelmaier richtig erkannte, überhaupt nicht mehr um Theaterkritik.- Es geht um die Verteidigung einer Idee von Theater, in welcher der Einbruch von Realität nur störend wirken kann, und, weiter gefaßt, es geht um das Verhältnis zwischen nichtbehinderten und behinderten Bürgern in unserer Gesellschaft schlechthin.

Deutlich wird dies, wenn Joachim Kaiser 1986 in seiner Beurteilung meiner Darstellung des Willie in Becketts "Glückliche Tage" resümiert: "Wahrscheinlich kann ein Behinderter alles vorführen und spielen auf dem Theater: außer seiner Behinderung". Drei Jahre später stellt derselbe Kritiker in seiner Rezension zu Gaston Salvatores "Stalin" hingegen fest: "Allzu falsch erwies sich die ebenso provozierende, wie unsinnige Idee, den schwer körperbehinderten P.R. die Stalin-Rolle spielen zu lassen. Natürlich kann man sich dabei allegorisch irgend etwas Kluges denken. Stalin, der beschädigte Mensch. Der Überkompensierer. Stalin - verfremdet." Wie sollte ein Charakter, der von einem Behinderten verkörpert wird, nicht automatisch Züge einer Behinderung annehmen? Wenn behinderte Schauspieler weder Stückfiguren mit Behinderung darstellen sollen, noch mehr oder minder nichtbehinderte Personen, dann ergibt sich daraus nur eine logische Konsequenz: "'Echte' Behinderte haben auf der Bühne nichts verloren." Was aber ist der Hintergrund einer solchen, offen nie ausgesprochenen Überzeugung? Zwei Antworten bieten sich an, die eine an der Theatertheorie ausgerichtet, die andere eher allgemeinpsychologischer Natur. 

"Theater ist die Perfektion des Als-Ob", so lautet eine jahrhundertealte, noch heute gängige These. Der reale Baum auf der Bühne statt einer Pappdekoration, der körperlich erfahrene Schmerz des Akteurs während einer Aufführung statt des kunstvoll durch Gestik und Mimik vermittelten Eindrucks von Leiden und Qual, widersprechen der überlieferten Anschauung von Theater als stilisiertem Kunstraum. Dementsprechend birgt der Auftritt eines behinderten Darstellers gewollt oder ungewollt die Gefahr in sich, eben jenes Prinzip des "Als-Ob", das unausgesprochen Grundlage jeder Interaktion Schauspieler - Zuschauer bildet, zu unterlaufen. Dem stehen allerdings gewichtige Überlegungen entgegen. Zum einen hat sich auch die Auffassung über das, was Theater ist oder sein soll, fortentwickelt. Die Pappkulisse, zumindest in den großen Häusern der Nation, ist längst einem Naturalismus gewichen, der bis zum Paradox führen kann, daß für eine Inszenierung der "Troerinnen" echte Weidenstümpfe aus der Poebene herbeigeschafft werden müssen. Spätestens seit Grotowski und Straßberg ist auch die Frage der Echtheit von Gefühlen eines Darstellers erneut zur Diskussion gestellt. Sie scheint mir bis heute nicht eindeutig beantwortet. Schließlich - und hierin bricht erstmals die Kluft zwischen Kritiker und Publikum auf - zeigt die Reaktion der Zuschauer, daß sie sehr wohl bereit sind, sich von Theater berühren zu lassen, was immer seltener auf herkömmliche Weise geschieht, häufig aber dann, wenn die Authentizität des auf der Bühne Erfahrenen ihnen spürbar wird. Zum andern aber kann selbst das Auftreten eines Behinderten als Bühnenfigur dem Gesetz des "Als-Ob" nachkommen, dann nämlich, wenn Behinderung nicht gedoppelt vorgeführt wird, sondern als Sichtbarmachung eines Subtextes verstanden wird. Kein Kritiker kann sich daher hinter einer Theatertheorie verstecken, die einerseits vielfach durchlöchert erscheint, andererseits mit Ausnahme des Teilbereiches "Behinderter verkörpert Behinderten" durchaus gewahrt werden kann.

Was sich als angeblich objektive Stückbesprechung ausgibt, was sich scheinbar ausschließlich auf theaterimmanente Kriterien beruft, ist nicht selten Ausdruck einer persönlichen Verunsicherung, die auf die Konfrontation mit dem Phänomen "Behinderung" zurückgeht. Deutlich wird diese seelische Verletzung, denn um eine solche handelt es sich, wenn Bezeichnungen, die üblicherweise längst aus den Spalten der Zeitungen verschwunden sind, wie "Krüppel" oder "sich ausstellen", fröhliche Urstände feiern. Nur wenige Kritiker haben den Mut, dieses individuelle Sich-in-Frage-gestellt-Sehen dem Leser gegenüber einzugestehen. Am klarsten formulierte dies vielleicht Wolf-Dieter Peter, als er 1981 im Bayerischen Staatsanzeiger über "Nachricht vom Grottenolm" schrieb: "Auf seinem Sitz, aber auch anschließend in seinen Gedanken - der Kritiker, verunsichert. Und das ist vielleicht der schönste Erfolg für die 'Sache': Daß nicht ein Theaterstück zur intellektuellen Prüfung steht, ein Kunsterlebnis, sondern vielmehr das eigene Verhältnis zu einem Behinderten..." Zugegeben hat es der einfache Theaterbesucher hier leichter. Ihm steht es zum einen frei, der Auseinandersetzung auszuweichen und die Vorstellung frühzeitig zu verlassen, zum andern ist er nicht gezwungen, seine mögliche Erschütterung anderen mitzuteilen. Berührungsängste beherrschen das Klima in unserer Gesellschaft. Warum sollten Theaterkritiker, als Ausnahmemenschen, vor ihnen gefeit sein? Das Eingeständnis einer solchen inneren Beunruhigung könnte jedoch auch dem normalen Zuschauer den Zugang zur nötigen Auseinandersetzung ebnen. Das Theater hat, nach meiner Meinung, auch heute noch das Potential, zu erschüttern, zu bewegen und dadurch etwas in Gang zu bringen. Der Kritiker sollte sich dieser Aufgabe nicht entgegenstellen sondern sie durch sein persönliches Engagement unterstützen.