Peter Radtke

Wehret den Fortschritten

1944 betrat ein Angestellter der staatlichen Gesundheitsbehörde das Wohnzimmer meiner Eltern. Er wollte sie dazu überreden, mich zu einer Kur in ein Kinderheim zu schicken. Das Heim war - wie sich später herausstellte - ein Sammellager für unheilbar Kranke und das Ziel der Unternehmung lag in meiner Beseitigung im Rahmen des Euthanasieprogramms der Nationalsozialisten. Die Vorgeschichte dieser Begebenheit ist schnell erzählt. Ich war rund eineinhalb Jahre zuvor mit einer schweren Form der Osteogenesis imperfecta (Glasknochenkrankheit) auf die Welt gekommen. Bereits im Mutterleib zog ich mir drei Knochenbrüche zu. Als ich geboren wurde, gaben mir die Ärzte keinerlei Überlebenschance. In den nachfolgenden Monaten und Jahren kletterte die Zahl der Frakturen auf über hundert. Nach Menschenermessen stand mir ein Leben in Schmerzen und Leid bevor, die Krankheit war medizinisch nicht zu heilen, der Erhalt meines Lebens konnte nur zu einer Belastung meiner Angehörigen, der Gesellschaft und des Staates werden. Ich bildete folglich einen Idealfall für die Anwendung des sogenannten „Gnadentodes“ der berühmt-berüchtigten Aktion T 4. Nur durch den fast übermenschlichen Einsatz meiner Mutter und die Tatsache, daß wir uns in den letzten Monaten des Krieges befanden, wurde ich vor einem Schicksal verschont, das viele meiner Weggefährten ereilte.

Unter diesen Vorzeichen ist mein Kampf gegen das heraufziehende Unheil zu verstehen, das sich heute unter dem Deckmantel des beschönigenden Ausdrucks „Sterbehilfe“ in unserem Land, aber auch anderswo, wieder breitmacht. Bereits die Erwähnung des „Dritten Reiches“ in einer Diskussion über „Sterbehilfe“ und „Euthanasie“ wird von den Befürwortern lebensverkürzender Maßnahmen als Diskriminierung und Verquickung völlig unvereinbarer Ansätze betrachtet. Tatsächlich geht die Tötung vermeintlich „lebensunwerten“ Lebens weit in die Vergangenheit unserer Geschichte zurück. Schon in der Antike wurden mißgebildete Säuglinge und Kinder in der Wildnis ausgesetzt, um sie dem Tod anheim zu geben. Der Eid des Hippokrates bezog sich ausschließlich auf heilbare Kranke, so daß dieses Dokument, in seiner ursprünglichen Bedeutung, nicht zur Verteidigung des Lebensrechtes von behinderten Menschen hergenommen werden kann. Erst die Hinwendung des Christentums zur leidenden und kranken Kreatur führte zu einer grundlegenden Wende in der Bewertung menschlichen Lebens, auch des behinderten. Dennoch blieben verkrüppelte, geistig retardierte, verhaltensauffällige Individuen weiter in der Gefahr, Opfer einer vorzeitigen Tötung zu werden. Die Hexenverfolgungen und Verurteilungen wegen Zauberei im Mittelalter bezogen sich nicht selten auf Menschen mit körperlichen Deformierungen oder geistigen Defiziten. Die teilweise qualvolle Hinrichtung dieser unglücklichen Geschöpfe stellte eine verkappte Form der „Euthanasie“ dar, die um so bedrückender ist, als sich in ihr auch ein Grundzug der modernen Sterbehilfedebatte widerspiegelt, der allerdings kaum offen zugegeben wird: der Schrecken vor dem aus der Norm Fallenden und die Abwehr vor der eigenen Verunsicherung. Selbst nach Ausbreitung des Christentums und auf dieses sich berufend gab es immer wieder Verfechter der Ausmerzung „lebensunwerten“ Lebens. Noch Martin Luther schreibt 1566 in seinen Tischreden über die Geburt eines mißgestalteten Säuglings: „Wenn ich gar Fürst oder Herr wäre, so wollte ich mit diesem Kinde in das Wasser, in die Mulde, so bei Dessau fleusst und wollte das Homocidium dran wagen.“

Der Euthanasiegedanke zieht sich also wie ein roter Faden durch unsere Menschheitsgeschichte. Aber bedeutet die Wiederholung von Unrecht, daß aus ihm Recht würde? Sicher wird man mir vorwerfen, ich könnte das Thema nicht mit der gebotenen Objektivität behandeln. Es gelte, Vor- und Nachteile einer Maßnahme abzuwägen und dann im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten eine Entscheidung zu fällen. Betroffenheit würde in dieser wichtigen Frage ein schlechter Ratgeber sein und den Weg zu einer Lösung „sine ira et studium“ verbauen. So sehr der Verdacht der Befangenheit auf den ersten Blick zutreffend scheint, so leicht ist er andererseits auch zu relativieren. Gerade im Fall der Euthanasie gibt es nämlich keine wirkliche Unbefangenheit, wie noch zu zeigen sein wird. Jene, die in Vergangenheit und Gegenwart das Thema aufgriffen, gehörten fast immer einer Gruppierung an, die direkt oder indirekt von den Auswirkungen dieses Problems betroffen waren. Politiker, Ärzte, Volkswirtschaftler und Gentechnologen dürften in dieser Angelegenheit nicht weniger Eigeninteressen verfolgen, als dies der Fall bei potentiellen Opfern von Euthanasievorhaben ist. Während jene jedoch in einer wissenschaftshörigen Welt ihren, vielleicht sogar unbewußten Selbstnutz mit der scheinbaren Wertneutralität akademischer Argumentation verbrämen, bleibt uns, die wir uns zur Subjektivität unserer Auffassungen bekennen, nur die Möglichkeit, auch ihnen die Maske der vorgegebenen Objektivität vom Gesicht zu reißen.

Die heutige Diskussion um Sterbehilfe und Euthanasie ist deshalb so schwierig geworden, weil - anders als in vergangenen Jahrhunderten - der Eigennutz in solchen Gedanken hinter Begriffen wie „Selbstbestimmungsrecht des Menschen“ oder „gebotenes humanes Handeln“ versteckt wird. Die Gründe, warum behindertes Leben ehedem beseitigt wurde, traten in früheren Zeiten wesentlich offener zutage und wurde nur in den seltensten Fällen kaschiert. So beruhte zum Beispiel die Aussetzung und Tötung behinderter Säuglinge bei den Spartanern auf reinen machtpolitischen Gegebenheiten. Eine zahlenmäßig geringe wehrhafte Oberschicht befehligte eine Masse rechtloser Heloten. Jederzeit konnte das Heer der Unterdrückten rebellieren und gegen die kleine Zahl ihrer Herren losschlagen. So war jedes nicht wehrfähige Mitglied der spartanischen Gemeinschaft ein nutzloser Esser und schwächte die Verteidigungsbereitschaft der Sklavenhalter. Es nimmt nicht Wunder, daß in einem solchen System Mädchen vom gleichen Schicksal bedroht waren wie behinderte Neugeborene. Für die Gemeinschaft genügte es, eine ausreichend große Anzahl von ihnen am Leben zu lassen, um den Fortbestand des eigenen Stammes zu gewährleisten. Daß die mittelalterliche Aussonderung behinderter Menschen, insbesondere auch Leprakranker, bis hin zur physischen Vernichtung in den Prozessen der Inquisition auf Gefühle echter oder eingebildeter Bedrohung in der Gesellschaft zurückgingen, habe ich bereits kurz angerissen. Die Ansätze der Euthanasie im Dritten Reich sind auf das Engste mit den Namen des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred E. Hoche verbunden. Diese beiden Wissenschaftler erstellten bereits dreizehn Jahre vor Machtergreifung der Nationalsozialisten das theoretische Fundament zur Beseitigung „lebensunwerten Lebens“ (ein Begriff, den ebenfalls Karl Binding erstmals prägte). Es ist sicher kein Zufall, daß ihre Gedanken in Zeiten größter wirtschaftlicher Not abgefaßt wurden. So nimmt doch tatsächlich das wirtschaftliche Argument einen breiten Raum in ihrer Propagierung der Euthanasie ein. Rechnungen werden aufgestellt, aus denen sich die ökonomische Belastung des Staates und damit jedes einzelnen Gliedes der Gesellschaft ablesen läßt. Diese Ideologie des Geldbeutels sprach die niedrigsten Instinkte der Menschen an und war erst auf dem Produktivitätsdenken der Industrialisierung und des Kapitalismus entwicklungsfähig. Zu dieser Angst einer Überbelastung des wirtschaftlichen Haushalts addierten die Nationalsozialisten das Schreckgespenst einer immer stärker erbkrank verseuchten Nation. Die Sterilisierung behinderter Menschen - im Grunde einer vorverlegte Euthanasie potentiell behinderten Lebens - war der erste Schritt, die direkten Tötungsaktionen ab 1939 der zweite. Wie sehr die vordergründig auf humane Motive zurückgeführte Euthanasie in Wirklichkeit doch auf reine Fragen der Produktivität reduzierbar waren, zeigt die Tatsache, daß mit fortschreitendem Krieg und damit einhergehendem Arbeitskräftemangel behinderte Menschen von der Tötungsaktion ausgespart wurden, sofern sie durch ihre Leistung zum „Endsieg“ beitragen konnten. Die unheilbare Krankheit, die Ausmerzung erbkranken Gutes, die Erlösung von Leiden und Schmerzen durch den „Gnadentod“ spielte dann keine Rolle mehr, wenn das menschliche Wesen zu einer für den Staat verwertbaren Tätigkeit noch fähig war.

War der Zeitpunkt der ersten Euthanasiedebatte unseres Jahrhunderts durch klare sozioökonomische Gegebenheiten gekennzeichnet, so gilt ähnliches auch für die erneute Diskussion um „Sterbehilfe“, um „aktive“ und „passive Euthanasie“ gegen Ende der Siebziger Jahre bis heute. In Deutschland, aber auch in anderen Ländern beginnen in diesen Tagen die Grenzen wirtschaftlichen Wachstums sichtbar zu werden. In der Epoche des Aufbaus blieben wir von Überlegungen zur Beseitigung „lebensunwerten“ Lebens verschont. Sicher spielten hierbei die Erinnerungen an die Greueltaten des Dritten Reiches eine gewichtige Rolle. Ebenso unumstritten dürfte die Tatsache sein, daß erst die Machbarkeit des bis dahin medizinisch für unmöglich Gehaltenen die Frage nach der Beendigung menschlichen Lebens neu aufgeworfen hat. Dennoch scheint mir die Empörung über unsern Vorwurf, die heutige Euthanasiediskussion schütze human-ethische Motive vor, um wirtschaftliche und anderweitige, außerhalb des Opfers liegende Interessen zu verschleiern, reichlich heuchlerisch. Wie anders wäre sonst die abwehrende Haltung meiner Umwelt zu erklären, die beschwörend beteuert, nicht ich sei Objekt einer wie immer gearteten Tötungsabsicht. „Sie können doch denken!“ Tatsächlich mag es vielleicht in Zukunft eher auf den Kopf eines menschlichen Wesens ankommen als auf seine körperliche Gestalt - eine tröstlicher Gedanke für manchen mißgebildeten Schicksalsgefährten angesichts der Masse an hirnlosen Zeitgenossen, die unsere Welt bevölkern. Hat sich die Sensibilität unserer Gesellschaft so sehr verfeinert, daß wir heute nur noch aus rein altruistischen Beweggründen Euthanasie und Sterbehilfe propagieren, während frühere Jahrhunderte einem egoistischen Ideal frönten? Das Wiederaufleben solcher Fragen in unserer Zeit ist weniger Zeichen eines fortgeschrittenen kulturellen Bewußtseins als vielmehr Durchbruch ewig vorhandener latenter tierischer Instinkte nach der Devise „Platz dem Starken; tötet das Schwache!“ 

Die moderne Debatte um die Verfügbarkeit menschlichen Daseins wird geführt unter Aussparung der Frage nach dem Sinn solchen Daseins. Die Propagierung humaner Motive geschieht in einer Zeit, wo Gedanken der Humanität stärker als je zuvor hinter Interessen von Wirtschaft und Politik zurückstehen. Schon mehrfach konnte ich in anderem Zusammenhang meine These bestätigt finden, daß die Probleme behinderter Menschen in unserer Gesellschaft weniger spezifische Behindertenprobleme sind als vielmehr allgemein menschliche Fragestellungen, die im Extrembeispiel Behinderter quasi „in nuce“ und unausweichlicher abgehandelt werden müssen. Vielleicht gelingt es mir, einem Behinderten, indem ich mich gegen die Freigabe der Tötung „lebensunwerten“ Lebens (welch Widerspruch bereits in sich!) zur Wehr setze, Denkprozesse in Gang zu bringen, die weit über den Bereich der Behindertenthematik hinausgehen. 

Als ich auf die Universität kam - ich hatte die Reifeprüfung auf dem Zweiten Bildungsweg gemacht und hinkte altersmäßig hinter der Regellaufbahn hinterher - war das Klima der Hochschulen von den Studentenunruhen geprägt. Überall herrschte Aufbruchstimmung. Da ich darüber hinaus aus einem linksorientierten Elternhaus stammte, standen für mich die Forderungen nach Liberalisierung des Abtreibungsparagraphen oder die uneingeschränkte Selbstbestimmung behinderter Menschen außerhalb jeder Diskussion. Gegner der Abtreibung wurden von mir aus Prinzip als reaktionäre Chauvinisten angesehen, obwohl ich schon damals nicht verstand, warum man ein ungeliebtes Kind nicht trotzdem austragen kann, um es einem der vielen adoptivwilligen Paare anzuvertrauen. Manch einer wird sich vielleicht fragen, weshalb ich solche persönlichen Bekenntnisse an dieser Stelle formuliere. Ich will damit zeigen, daß meine heutige Meinung nicht einfach spontan, gewissermaßen über Nacht entstanden war, sondern Produkt eines schmerzhaften Lernprozesses ist, schmerzhaft, weil ich mich plötzlich in Gesellschaft von Ansichten finde, die ich ansonsten zum Großteil ablehne. Wenn man jedoch aufgrund von Erfahrungen zu Überzeugungen gelangt, die keinen Kompromiß mehr erlauben, so muß man notfalls auch seinen eigenen Begriff von Toleranz neu überdenken. Indem mir von Gegnern meiner Haltung klar gemacht wurde, daß auch die Trennlinie der Geburt letztlich nur eine künstliche Unterscheidung bedeutet, und weil ich dieser Auffassung keine echte Argumentation entgegenstellen kann, bleibt mir nur die Wahl, mich auf Positionen zurückzuziehen, die einige Freunde als erzkonservativ bezeichnen würden, aber die in anderer Perspektive den einzigen Rahmen abgeben, um ein ernstzunehmendes Gegenbild aufzubauen.

Auf zwei Eckdaten konzentrieren sich die modernen Überlegungen zum Einsatz lebensverkürzender Maßnahmen. Beide sind mit dem Namen prominenter Vorkämpfer verbunden. Für die Beseitigung nutzlosen, behinderten Lebens vor oder kurz nach der Geburt steht der australische Professor Peter Singer; für den „Erlösungstod“ vor Beendigung des natürlichen Lebenslaufes die deutschen Heilsverkünder Hans-Henning Atrott und Prof. Joachim Hackethal. So unterschiedlich der Charakter dieser drei Propagandisten einer neuen alten Philosophie auch sein mag, so symptomatisch ist gerade diese Unterschiedlichkeit für die Bandbreite des Spektrums von Menschen, die sich teils überlegt, teils mit unverfrorener Leichtfertigkeit zu Befürwortern einer modernen Euthanasie aufwerfen. Schließlich spielt für die Behandlung unseres Themas noch eine Schrift eine Rolle, die unter dem Begriff der „Einbecker Empfehlungen“ einen unwürdigen Ruhm erlangt hat. Ähnliche Leitlinien gibt es auch in anderen Ländern, doch genügt es, den Blick auf die einheimische Situation zu beschränken.

Abgesehen von der bereits erwähnten tödlichen Bedrohung im Jahre 1944, die ich allerdings verständlicherweise zu jenem Zeitpunkt noch nicht in ihrer Bedeutung begreifen konnte, und einzelnen Artikeln in der Zeitung, die mich zwar aufbrachten, aber im Grunde noch nicht ernstlich erschütterten, begann meine Auseinandersetzung mit dem Thema „Euthanasie“ konkretere Formen durch eine Fernsehdiskussion anzunehmen, an der ich im Sommer 1987 teilnahm. Der Inhalt sollte sich ursprünglich auf einen ganz anderen Gegenstand erstrecken, meine Tätigkeit als behinderter Schauspieler an den Münchner Kammerspielen. Bei der Vorbereitung zur Sendung sprach ich mit dem Verantwortlichen über die verschiedenen Möglichkeiten, Fernsehtalkshows zu gestalten. Ich meinte, daß ein besonderer Reiz darin liege, wenn die Teilnehmer an einer Diskussion extrem unterschiedliche Auffassungen hätten. Ich wurde gefragt, wen ich mir als Antipoden vorstellen könnte. Ohne an die Folgen auch für mein eigenes psychisches Gleichgewicht zu denken, nannte ich den Namen „Hackethal“. Er war für mich der Inbegriff eines Rattenfängers, dessen hübschen Tönen die Leute nachfolgten, ohne auf die Gefährlichkeit des vor ihnen liegenden Weges zu achten.

Hackethal war damals gerade „in“, weil er einer jungen querschnittgelähmten Frau den Weg zur ewigen Seligkeit bahnen wollte. Angeblich - ja, ich bezweifle nicht einmal seine Aussage - hatte die unter ihrer frisch erworbenen Behinderung Leidende keinerlei Lebensmut mehr und wollte ihr schmerzhaftes Dasein so rasch wie irgend möglich beenden. Da sie bis zum Kopf unbeweglich war, fehlten ihr die Mittel für einen selbständigen Selbstmord. Hackethal bot sich im wahrsten Sinne des Wortes als „Retter der letzten Stunde“ an. Man brauchte mich auf die Auseinandersetzung mit meinem Gegner nicht besonders scharf zu machen. Ich wußte und weiß noch immer, warum ich eine solche Hilfe zur Selbstverwirklichung bis zum Letzten bekämpfen muß. Sie ist nämlich das Trojanische Pferd, durch welches der Gedanke der Euthanasie Einlaß erhält in breite Schichten der Bevölkerung. Während ich also auf das Treffen mit Hackethal durchaus vorbereitet war, schien dieser der ungewohnten Situation völlig ahnungslos gegenüber zu stehen. Die erste Runde gewann ich klar nach Punkten. Hackethal war offensichtlich überrascht, auf einen Körperbehinderten zu stoßen, der Freude an seinem keinesfalls leichten Schicksal hatte. Doch nun startete er zu einer Gegenoffensive, die unter dem Begriff der „Selbstbestimmung“ geführt wurde. Dieser Begriff spielt eine solch zentrale Rolle in der Euthanasiedebatte, daß auf ihn hier näher eingegangen werden muß.

Es gehört sicher zu den schwierigsten Fragen des menschlichen Lebens überhaupt, ob es etwas ähnliches gibt wie Selbstbestimmung. Sogar jene, die sich stolz Atheisten oder Materialisten nennen, können nicht ohne Zögern antworten, inwieweit wir selbst Herren in unserem eigenen Haus sind. Wer kennt nicht die Abhängigkeit menschlicher Stimmungen von körperlichen Zyklen, Medikamentengebrauch oder auch nur Erfolgs- und Mißerfolgserlebnissen? „Jeder ist seines Glückes Schmied“ stimmt in dieser Hinsicht nur teilweise. Sehr häufig sind es andere, die am Glück oder Unglück ihrer Mitmenschen schmieden. Daß es darüber hinaus gewisse Anlagen gibt, die jemand zu depressiverem oder optimistischerem Handeln veranlassen, kann ebensowenig bestritten werden. Für viele Mediziner sind Stimmungen ohnedies nur chemische Reaktionen. Was also bleibt von dieser Selbstbestimmung übrig? Die Tatsache, daß man zu etwas freiwillig „ja“ sagt, was von äußeren Beeinflussungen abhängig ist? Auch wenn ein Schwerkranker sein Leiden nicht mehr ertragen will, gibt es hierfür mehrere Ursachen. Die Objektivität der Schwere des Schicksals - sofern es hier überhaupt eine Objektivität geben kann - ist nur eine davon. Gerade kranke und behinderte Menschen reagieren mit geschärfter Sensibilität auf das Klima, das von der Umwelt ihnen entgegengebracht wird. Wird die Belastung spürbar gemacht, die ein pflegerischer Aufwand kostet, so verdoppelt sie sich für den auf Hilfe Angewiesenen. Wie oft erleben wir, daß ein Leben dann verlischt, wenn der Träger das Gefühl hat, nicht mehr gebraucht zu werden.

Sicher ist es nicht immer leicht, einem Kranken oder Behinderten das Gefühl des Gebrauchtwerdens zu vermitteln. Es kann vor allem dann nicht vermittelt werden, wenn es nicht der Realität entspricht. Dies aber führt uns zu einer weiteren Folgerung. Unsere Gesellschaft hat es verlernt, nicht-gesundem Leben positive Aspekte abzugewinnen. Die Alten - und damit in gewisser Weise auch die Gebrechlichen - zu ehren, wie weit liegt das schon zurück! Dabei hatte dieses Ehren keinesfalls nur traditionellen Wert. Es ging darum, aus der lebenslangen Erfahrung eines anderen zu lernen. Doch Lernen bedeutet Geduld, eine Eigenschaft, die sich in der Hektik unseres Computerzeitalters verloren hat.

Kehren wir zu unserer Erörterung der Selbstbestimmung zurück. Die Literatur kennt nur einen, der es verstand, sich aus dem Schlamm zu ziehen: Münchhausen. Krankheit, eintretende Behinderung, nahendes Sterben sind solcher Morast. Wenn der darin Befangene den Wunsch äußert, ein Ende zu machen, das langsame Versinken durch einen raschen Stoß zu beschleunigen, so wird für dieses Ansinnen schnell der Begriff der Selbstbestimmung herbei zitiert. Seltsamerweise wird dieser Wunsch jedoch nur respektiert, wenn seine Grundvoraussetzung mit dem übereinstimmt, was der uneigennützige „Helfer“ selbst an Vorstellungen von „lebenswertem“ und „lebensunwertem“ Leben hat. Driften die Auffassungen auseinander, z.B. im Fall von Drogensüchtigen oder depressiv Veranlagten, wird das Recht auf Vollzug der Selbstbestimmung sehr wohl eingeschränkt. Keiner würde jedoch zugeben, daß hier mit zweierlei Maß gemessen wird. Meistens hört man, der Todeswunsch eines Gesunden sei in der Regel eine vorübergehende Laune. Man müsse den potentiellen Selbstmörder vor sich selber bewahren. Wer garantiert, daß der Todeswunsch eines Schwerstbehinderten nicht auch nur vorübergehender Natur ist? Weder die Unmöglichkeit der Wiederherstellung körperlicher Unversehrtheit noch die oft jahrelange Wiederholung desselben Wunsches sagt etwas aus über die Endgültigkeit der geäußerten Einstellung. Kann jemals ausgeschlossen werden, daß ein Mensch durch das Leiden nach und nach einen tieferen Sinn in eben diesem Schicksal entdeckt und schließlich doch noch zu ihm „ja“ sagt? Ist nicht davon auszugehen, daß vielleicht unter anderen Lebensbedingungen (familiärer Zuwendung, liebevoller Pflege, Verbesserung der Schmerzbekämpfung u.ä.) der zweifellos ursprünglich ernstgemeinte Wunsch letztlich gegenstandslos wird? Wünsche orientieren sich an der Umwelt, und so, wie die Umwelt veränderbar ist, so sind es auch die Wünsche. Der Begriff „Selbstbestimmung“ ist zu einer Waffe in der Hand eines Hackethal oder Atrott geworden, ohne daß diese sich die geringste Mühe gäben, das diffizile Wechselspiel von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung zu untersuchen.

Wie wenig ein Todeswunsch aufkommt, wenn die äußeren Gegebenheiten stimmen, zeigen die Erfahrungen in den sogenannten Sterbekliniken im angelsächsischen und neuerdings auch deutschen Raum. Für mich und für andere, die ein Leben lang „an den Rollstuhl gefesselt“ sind, wie es selbst in seriöseren Publikationen so schön heißt, bedeutet die Willfährigkeit, mit der manche „Helfer“ dem Todeswunsch unheilbar Kranker entgegenkommen, eine Übertragung eigener Lebensvorstellungen auf den Patienten. Allein der soeben gebrauchte Ausdruck „an den Rollstuhl gefesselt“ mag hierfür ein Beispiel abgeben. Keiner - zumindest, wenn er von Geburt an auf den Rollstuhl angewiesen ist - wird auf den Gedanken einer „Fesselung“ kommen. Für die meisten von uns bedeutet der Rollstuhl vielmehr Geschenk der Beweglichkeit. Anders sieht es zugegebenermaßen zum Teil bei Menschen aus, die erst später den Rollstuhl benötigen. Sie können und wollen sich nicht von früheren Vorstellungen der unbeschränkten Mobilität lösen. Sie haben ihr ehemaliges Leben so verinnerlicht, daß sie nur schwer neue Werte in einer anderen Daseinsentfaltung finden können.

Auf diesem Weg ließe sich möglicherweise doch noch ein Grund für die „Selbstbestimmung“ zumindest chronisch Kranker finden. Haben sie nicht den Vergleich und damit die Rechtfertigung einer unparteiischen Abwägung? Sie haben ihn nicht, denn niemals sind sie ernsthaft bemüht gewesen, sich auf ihre neue Existenz einzustellen. Umgekehrt geben sich auch ihre „Erlöser“ kaum die Mühe, ihnen den Ist-Zustand lebenswerter erscheinen zu lassen. Der Hinweis, man werde alles für die Bedauernswerten tun, ist keine wirkliche Lebenshilfe. Es ist das Bild des goldenen Käfigs, in dem sich der Vogel nutzlos und gefangen vorkommt. Würde man ebensoviel Sorgfalt auf die Hilfe zum Leben verwenden wie auf die Sterbehilfe, hätten wir sicher etliche Probleme weniger.

Habe ich gezeigt, wie fragwürdig der Begriff der Selbstbestimmung bereits bei kommunkationsfähigen Menschen ist, so wird er noch viel angreifbarer im Fall von Personen, deren Absichten wir nur erraten können, die sich uns nicht direkt mitteilen. Ihre Wünsche meinen wir, aus Indizien erschließen zu können. Doch wie bei einem Indizienfall vor Gericht bleibt stets ein mehr oder minder starkes Maß an Zweifel. Dies gilt einerseits für im Koma liegende Menschen, andererseits aber ebenso für Neugeborene und kommunikationsgestörte Behinderte. Auch hier wird mit der Selbstbestimmung argumentiert, obwohl noch offenkundiger als irgendwo sonst diese Selbstbestimmung eine Fremdbestimmung ist. Sie ergibt sich aus einer Folgerung, die ebenso fehlerhaft wie fatal ist. Verdeckt oder offen lautet sie: „Wenn ich in dieser oder jener Lage wäre, würde ich so oder so handeln.“ Der Außenstehende schlüpft also für die Entscheidungsfindung in die Person des Betroffenen, oder er gibt vor, es zu tun. In Wirklichkeit kann und wird er immer nur er selbst bleiben. Ist er ein optimistischer Charakter, so wird er auch in einer hoffnungslosen Lage seines Gedankenzwillings positive Aspekte erkennen, ist sein übliches Handeln von Nützlichkeitserwägungen geprägt, bringt er diese natürlich auch in seine Projektion ein. Für einen Bergsteiger sind die Freuden eines Nicht-Bergsteigers ebensowenig abschätzbar wie für einen sportuninteressierten Kunstfreund die Wonnen körperlicher Betätigung.

Meinen erste Behauptung lautet folglich: niemand kann sich in die Lage eines anderen versetzen. Während diese Maxime jeder einsieht, wenn es um soziale Schichten geht oder um Personen unterschiedlicher Kulturräume (Fließbandarbeiter - Topmanager, australischer Ureinwohner - mitteleuropäischer Intellektueller), nimmt man als selbstverständlich an, daß zwischen nichtbehinderten und behinderten Menschen leichter ein gemeinsamer Nenner zu finden ist. Dies mag für Gebiete zutreffen, an denen beide in gleicher Weise teilnehmen, nicht jedoch für das spezifische Lebensgefühl des jeweils anderen. Aufschlußreich ist für mich immer wieder die Aussage von Fremden, wenn sie mich in meinem Rollstuhl sehen: „Schade, daß Sie im Rollstuhl sitzen müssen. Sie versäumen so viel vom Leben.“ Gerade ich genieße jedoch eben dieses Leben in vollen Zügen, anders vielleicht als jene es tun würden, aber eben auf meine Weise. Wenn dann noch hinter vorgehaltener Hand getuschelt wird: „Ich möchte nie so leben wie der“, kann ich nur noch erwidern: „Danke, gleichfalls.“

Meine zweite Behauptung in diesem Zusammenhang lautet: Wenn man sich überhaupt an das Wesen eines anderen Menschen herantasten kann, so gelingt es noch am ehesten bei jenen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie man selbst. Auf behinderte und kranke Menschen übertragen heißt dies: Behinderte Menschen sind eher geeignet, etwas über den Lebenswert behinderten Lebens zu sagen als nichtbehinderte. Das ist nicht Ausfluß eines Überheblichkeitswahns sondern Folge stärkerer Erfahrungsparallelität. Nimmt es nicht Wunder, daß in der Debatte über Euthanasie und Sterbehilfe die Behindertenbewegung fast geschlossen gegen Hackethal, Singer und Atrott auftritt? Warum verfechten gerade Nichtbehinderte so eifrig das Sterberecht für Behinderte, während die Betroffenen selbst für das Lebensrecht behinderten Daseins eintreten?

Weil der Außenstehende unter Übertragung seiner eigenen Gefühle und Erfahrungen eine gewisse Form der Lebensführung für sich nicht als erstrebenswert, ja nicht einmal durchführbar erachtet, glaubt er, daß der Betroffene die gleiche Entscheidung vollziehen würde, die der Außenstehende möglicherweise (selbst das ist nicht sicher) in ähnlicher Lage treffen würde. Tatsächlich wüßte ich gerne, ob Herr Atrott, Herr Hackethal, Herr Singer und wie sie alle heißen in all jenen Fällen selbst zum Schierlingsbecher greifen würden, in denen sie ihn für ihre Anvertrauten bereit halten. Es spricht sich schnell vom „schönen Tod“, wenn man selber nichts damit zu tun hat. Die Selbstbestimmung wird also auch dort hergenommen, wo es um eine eindeutige Fremdbestimmung geht, bei der Tötung neugeborenen behinderten Lebens, wie sie Peter Singer vertritt. Welche weitere Perversion eines an sich bereits zweideutigen Begriffes, wenn sich die Betroffenen nicht dagegen wehren können! Bedeutet dies nun etwa, daß es keine Selbstbestimmung gäbe? Weder ich noch irgendein anderer Mensch kann hierüber wahrscheinlich eine endgültige Antwort geben. Letztlich kann es aber auch nicht um die Lösung irgendeines philosophischen Problems gehen. Für die hier anstehende Betrachtung von Euthanasie und Sterbehilfe ist lediglich von Interesse, daß die vielgerühmte Selbstbestimmung keinesfalls jenes eherne Gesetz bedeutet, das den Befürwortern der Lebensverkürzung eine unanfechtbare Argumentationshilfe an die Hand gibt.

Schließlich noch eine sehr persönliche Bemerkung: In den vielen Diskussionen um die Themen "Sterbehilfe", "Euthanasie", "Gentechnologie", an denen ich mittlerweile teilgenommen habe, gelangte ich immer wieder an einen Punkt, an dem ich eingestehen mußte, reine menschliche Vernunft bringt uns nicht weiter. Irgendwann steht man an einer Wegkreuzung, wo man sich entscheiden muß: Unter welchen Vorzeichen sehe ich den Menschen, sei er nun behindert oder nichtbehindert? Ich war nie ein besonders kirchenkonformer Christ, und ich kann dies auch heute noch nicht von mir behaupten. Aber in diesen letzten Jahren habe ich erkannt, daß ich ohne gewisse Vorgaben, die durchaus religiös geprägt sein mögen, diese Auseinandersetzung um Leben und Tod nicht bestehen kann. Ich glaube, daß der Mensch mit einer Seele ausgestattet ist, und daß ihn dies von der nichtmenschlichen Kreatur unterscheidet. Ich glaube, daß der Mensch nicht das Recht hat, über sein eigenes Leben zu verfügen. So wie er sich nicht selber gebären kann, sondern das Leben als eine Art Geschenk bekommt - mag er nun das Geschenk wollen oder nicht - so steht es ihm auch nicht frei, diesem Leben willkürlich ein Ende zu setzen. Ich glaube, daß unser Dasein, auch in seiner extremsten Form, z.B. in Gestalt des kommunikationsunfähigen Schwerstbehinderten, einen Sinn hat, ohne daß ich erklären müßte, worin dieser Sinn besteht. Diese Axiome sind nicht zu beweisen, eben weil sie Axiome sind. Man kann sie akzeptieren oder nicht akzeptieren, aber man behaupte nicht, daß diejenigen, die nur mit angeblich rationalen Argumenten Euthanasie und Sterbehilfe verteidigen, nicht ebenso unbeweisbare Axiome hätten. Solche Axiome lauten dann: Glück ist gut, Leid ist schlecht; je intelligenter ein menschliches Wesen ist, desto besser; der Mensch und seine Ratio ist Maß aller Dinge.

Lassen Sie mich enden mit einem Gedicht von Erich Fried, das sicher etliche von Ihnen kennen. Ich will es trotzdem rezitieren, weil es vielleicht am treffendsten das zum Ausdruck bringt, was unser Streben nach Perfektion - und dazu gehört auch das Eliminieren von Leid - in Wirklichkeit ist: eine Chimäre. 

Die Maßnahmen

von Erich Fried

Die Faulen werden geschlachtet
die Welt wird fleißig
Die Häßlichen werden geschlachtet
die Welt wird schön
Die Narren werden geschlachtet
die Welt wird weise
Die Kranken werden geschlachtet
die Welt wird gesund
Die Traurigen werden geschlachtet
die Welt wird lustig
Die Alten werden geschlachtet
die Welt wird jung
Die Feinde werden geschlachtet
die Welt wird freundlich
Die Bösen werden geschlachtet
die Welt wird gut.