Behinderung und die Ideologie des »Normalen«
Wer keine Werte mehr kennt, hält sich an Normen.
Ich bin
gebeten worden, in dieser Festschrift, als behinderter Autor, einige
Gedanken zum Verhältnis zwischen Behinderung und der Ideologie des
"Normalen" niederzulegen. So begrüßenswert die Aufforderung
an sich ist - und ich komme ihr auf den folgenden Seiten gerne nach
- so sehr spiegelt sie bereits die Problematik des zu behandelnden Themas.
Warum wurde gerade ich mit dieser Aufgabe betraut? Warum hat Behinderung
einen solch besonderen Stellenwert im Verhältnis zum "Normalen"? Bedeutet
die Behandlung des Themas aus der spezifischen Perspektive eines behinderten
Betrachters nicht zwangsläufig das Eingeständnis, daß "Normalität"
und "Behinderung" zumindest in einem Spannungsverhältnis zueinander
stehen? Bevor wir diese Frage näher erörtern, lassen Sie uns
einige generelle Überlegungen zu den Begriffen "normal" und "Behinderung"
anstellen.
Das 20. Jahrhundert ist, wenigstens in den westlich orientierten Zivilisationen, zum "Jahrhundert der Normen" schlechthin geworden. DIN-Normen, Euro-Normen, noch weltumspannendere Global-Normen kennzeichnen unsern Alltag. Die Gründe für eine derartige Entwicklung liegen auf der Hand. Durch die modernen Verkehrsmittel, durch Telekommunikation und Welthandel, sind Länder und Kontinente zusammengerückt. Je lauter der Ruf nach Autonomie und Selbstbestimmung erhoben wird, desto deutlicher tritt auch die gegenseitige Abhängigkeit von Staaten und Individuen zutage. Konnten in früheren Jahrhunderten Fürstentümer, Gemeinden, ja sogar einzelne Großfamilien oftmals weitgehend autark existieren, weil das meiste, was für den Unterhalt notwendig war, aus eigener Kraft angebaut und hergestellt wurde, ließ sich diese selbständige Lebensweise mit den Erfordernissen der anbrechenden Industrialisierung nur mehr schwer in Einklang bringen. Das Fließband, die Aufteilung der Produktionsschritte auf eine Vielzahl unabhängig voneinander arbeitender Menschen, führte zur Notwendigkeit eines blinden wechselseitigen Vertrauens. Eine der typischsten Ausdrucksformen der neuen Richtung war die Normierung. Die Normierung bildete Voraussetzung und Preis für den technischen Fortschritt, der heute gerade auch schwerstbehinderten Betroffenen zugute kommt. Doch das Phänomen sollte nicht auf den Bereich der Technik beschränkt bleiben, wie Charlie Chaplins Film "Moderne Zeiten" sozialkritisch, aber nicht ohne Humor, anschaulich demonstriert.
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte eine bis dato in annähernd ähnlicher Intensität nicht gekannte Gleichschaltung des Individuums. Gigantische Massenaufmärsche und eine beispiellose Uniformität von Bewegungen und Gefühlen kennzeichneten nicht allein die spektakulären Reichsparteitage eines Adolf Hitler. Szenarien dieser Art wiederholten sich in jenen Jahrzehnten in vielen europäischen Hauptstädten. Während mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der westlichen Hemisphäre auch ein Ende solch übersteigerter Uniformität einherging, überlebte die absolute Gleichschaltung von Denken und Handeln Tausender in den sogenannten Ostblockstaaten noch bis in die späten Achtziger Jahre. Erst der Zusammenbruch der russischen Hegemonie sprengte die Fesseln eines starr auf ein einziges Ziel hin ausgerichteten Weltbildes. Aber war der Westen wirklich weltoffener und liberaler?
In den ersten Nachkriegsjahren kam es in der Tat vorübergehend zu einer Blüte des Individualismus. Kreativität wurde offensichtlich durch wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg belohnt; der Trott in eingefahrenen Gleisen hingegen schien umgehend zu materiellen Einbußen und sozialem Niedergang zu führen. Uniformität, gleich welcher Art, stellte für eine neue Generation Anachronismus und Anlaß zum Ärgernis dar. Höhepunkt und Wende dieser Entwicklung bildeten die Unruhen des Jahres 1968. Bald schon wurde die gewonnene Freiheit allerdings ihrer selbst überdrüssig. Man begann, nach neuen Fixpunkten zu suchen. Doch beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit, hatten Staat und Kirche, die ehedem stützenden Kräfte traditioneller Weltanschauung, an Bedeutung eingebüßt. Als sich der seines Orientierungsverlustes bewußt Gewordene nun nach neuen Werten umsah, fand er nichts, was dieses Namens würdig gewesen wäre. Der Staat hatte durch den Mißbrauch der Macht in den Zeiten totalitärer Ausrichtung an Autorität verloren. Die schwächliche, teilweise auch oberflächliche Handhabung demokratischer Spielregeln in den späteren Jahren war darüber hinaus kaum geeignet, den jungen Menschen neue Ziele und Hoffnungen zu vermitteln. Doch auch die Kirchen, als zweite wertetragende Säule der Gesellschaft, hatten nicht nur in ihrer Bewährungsprobe gegenüber Diktatur, Massenvernichtung und Weltkrieg über weite Strecken hin versagt, sie erwiesen sich ebenso in Bezug auf die Herausforderungen der modernen Zeit immer wieder als zu wenig flexibel. Einerseits verschloß man die Augen vor drängend notwendigen Reformen, andererseits verwickelte man sich in Fragen der Tagespolitik, wodurch man selber Partei wurde und die Eigenschaft einer objektiven und objektivierenden Instanz verlor. Der Zusammenbruch des Marxismus-Leninismus, von einigen Politikern kurzsichtig als Sieg des triumphierenden Christentums gefeiert, verstärkte in breiten Kreisen sogenannter Linksintellektueller lediglich noch dieses Gefühl des Werteverlustes. Wo der Inhalt fehlt, gewinnt Struktur an Bedeutung. Heute sehen wir uns einer Ideologie des "Normalen" gegenüber, die verdecken soll, wie richtungslos unser gesellschaftliches Schiff zum gegenwärtigen Zeitpunkt dahintreibt.
In diesem Zusammenhang ist auch der Komplex "Behinderung" zu betrachten. "Ihr Kind ist leider nicht ganz normal", eröffnete man früher den entsetzten Eltern, wenn sich bei einem Neugeborenen eine geistige Behinderung oder eine körperliche Mißbildung herausstellte. Auch meine Eltern wurden noch in dieser wenig schonenden Weise auf ihr Schicksal vorbereitet. Heute geht man vielleicht etwas feinfühliger vor. Es finden sich Formulierungen wie: "Ihr Kind wird sich wahrscheinlich nicht völlig normal entwickeln" oder "Ihr Kind wird vermutlich nie eine normale Schule besuchen", immer aber taucht irgendwo der Begriff des "Normalen" auf. So nimmt es nicht Wunder, daß als Aufgabe der Rehabilitation in jüngster Zeit neben die "Integration in die Gesellschaft" (ein ebenso leerer wie irreführender Begriff) gleichrangig, wenn nicht sogar überlagernd, das Ziel der "Normalisierung" getreten ist. Selbst progressive Kreise der Behindertenbewegung scheinen inzwischen der Suggestion dieses Wortes verfallen zu sein.
Was aber ist diese "Normalisierung", die quasi als ultima ratio keinerlei Hinterfragung zu dulden scheint? Es ist die Anpassung an eine Norm, die ihrerseits jeglicher präzisen Definition entbehrt. In der Antike bezeichnete "Norma" ein Meßinstrument, das den Bauleuten und Geometern erlaubte, 90° Winkel millimetergenau festzulegen. Ein rechter Winkel bleibt sich immer gleich; an ihm gibt es kein Interpretieren und Deuteln. "Normgerecht", "normal" bedeutete in diesem Sinne akribisch exakte Übereinstimmung mit einer hundertprozentig definierten Vorgabe. Die Norm jedoch, die Gegenstand der vorliegenden Betrachtung ist, hat eine andere Struktur. Sie ist nicht unveränderbar. Sie hat sich im Wechsel der Jahrhunderte vielfach gewandelt und wird sich auch in Zukunft noch weiter verändern. Dies alles hängt eng mit einer zweiten Frage zusammen: Wer legt die Norm fest, die unser Leben bestimmt? Ein 90° Winkel existiert unabhängig vom jeweiligen Betrachter. Hingegen ist die Norm, die der Normalisierung zugrunde liegt, nicht zu denken ohne jene, die sie vorgeben.
Bittet man irgendeinen Straßenpassanten, einen Durchschnittsbürger,
zu erklären, was er unter "normal" versteht, wird ihm dies beträchtliche
Schwierigkeiten bereiten. Ein Wissenschaftler wird vermutlich gar nicht
erst in die gestellte Falle tappen. Ist "normal" zum Beispiel das statistisch
berechnete Durchschnittsverhalten eines Menschen, also auch die 6 % Scheidungen
pro geschlossener Ehe oder die 2/3 drogenerfahrener Jugendlicher zwischen
18 und 25 Jahren, oder ist es die als nachahmenswert empfundene Lebensweise
bestimmter Persönlichkeiten? In letzterem Fall schließt sich
automatisch die Frage an, warum der eine zum Vorbild wird, ein anderer
hingegen nicht. Eine positive Bestimmung der Eigenschaften des "Normalen"
scheint also äußerst problematisch. Wesentlich einfacher dürfte
sich die Definition aus der Negation heraus gestalten. Wir kennen in der
Umgangssprache gegensätzliche Begriffspaare wie "Sonderschule - Normalschule
(nur die wenigsten verwenden die Bezeichnung 'Regelschule')", "Homosexuellen-Trauung
- normale Trauung", "Heimunterbringung - normale vier Wände". Aus
solchen Gegenüberstellungen erschließt sich, wem Anteil an der
"Normalität" zugebilligt wird. Behinderte Menschen finden sich in
dieser Konstellation in der Regel auf der Seite der "Nicht-Normalen".
Es ist eine gewagte These, die sicher auch keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
erhebt, wenn ich behaupte, daß die Begriffe "Normalität" und
"normal" weniger etwas mit einem Richtwert zu tun haben, der von einer
bekannten Größe abgeleitet wäre, denn vielmehr Ausdruck
sind für ein weitgehend reibungsloses Funktionieren innerhalb eines
vorgegebenen Systems. "Sie sind ja gar nicht behindert; Sie führen
doch ein ziemlich normales Leben". Dieses, als Kompliment gedachte Urteil,
das ich häufig zu hören bekomme, bedeutet im Klartext: "Sie bereiten
proportional zur Schwere Ihrer Behinderung überraschend wenig Umstände."
Daß ich in Wirklichkeit kein "normales" Leben führe, wenn man
darunter den Durchschnittswert der Gesamtbevölkerung oder das Vorbildverhalten
gewisser herausragender Persönlichkeiten versteht, dürfte auf
der Hand liegen. Wenn mir aber trotzdem "Normalität" zugesprochen
wird, ist dies auf den glücklichen Tatbestand zurückzuführen,
daß ich nur wenig Hilfe benötige, diese innerhalb meines engsten
Familien- und Bekanntenkreises geleistet werden kann, und daß ich
mich darüber hinaus mehr oder minder problemlos in den allgemeinen
Prozeß von Arbeit und Gesellschaftsleben einfüge. "Normal" ist
jener, der keine Umstände bereitet, "behindert" derjenige, dem ein
reibungsloses Funktionieren, aus welchen Gründen auch immer, nicht
möglich ist.
Diese Erkenntnis ergänzend, wenngleich ihr teilweise widersprechend,
existiert noch ein zweites Phänomen, das im Fall von Randgruppen,
also auch von Menschen mit einer Behinderung, bis hin zur gespaltenen Daseinsempfindung
der Betroffenen führen kann. Jeder neigt dazu, sein eigenes Verhalten
als "normal" zu betrachten, unabhängig davon, ob dies von Außenstehenden
ebenso gesehen wird. Anders könnte man sein Schicksal überhaupt
nicht meistern. Für Rollstuhlfahrer ist es normal, im Rollstuhl zu
sitzen; Contergangeschädigte sehen nichts Ungewöhnliches darin,
ihr Besteck mit den Füßen zum Munde zu führen; Blinde finden
es völlig natürlich, wenn sie eine Sache oder Person, die sie
näher kennenlernen wollen, mit den Fingern "betrachten". Dieses Gefühl
der Normalität besitzt jedoch nur solange Gültigkeit, wie der
Rahmen der individuellen Privatsphäre nicht verlassen wird. Als Wesen,
das sich gleichzeitig als autonomes Individuum versteht, mit eigener Werteskala
des "Normalen", und als Teil einer Gesellschaft, für die sein Verhalten
keineswegs "normal" ist, pendelt der Betroffene ständig zwischen
zwei Erfahrungspolen. Jede Erlebnisebene für sich genommen, ist gleich
real für ihn, als Einheit gesehen, geraten sie jedoch ständig
in Konflikt miteinander. Mangelndes Selbstwertgefühl oder übersteigertes
Ich-Bewußtsein, psychische Krisen und Realitätsverlust sind
nur einige der Auswirkungen, die hier aufgezählt werden sollen.
Man ist nicht behindert, man wird behindert. Ähnlich wie die Begriffsbestimmung
des "Normalen", erweist sich auch die Definition von "Behinderung" nur
auf den ersten Blick als unproblematisch. Selbstverständlich soll
nicht in Abrede gestellt werden, daß es äußere Kriterien
für die Feststellung einer Behinderung gibt. Wenn jemand im Rollstuhl
sitzt oder sich mit einem weißen Stock seinen Weg durch die Menge
bahnt, darf mit gutem Recht angenommen werden, daß die entsprechende
Person behindert ist. In welchem Maße diese Tatsache allerdings eine
qualitative Unterscheidung zum sogenannten Nichtbehinderten-Dasein zuläßt,
ist wiederum stark der subjektiven Einschätzung des Betrachters unterworfen.
Ich, zum Beispiel, bin durch meine Behinderung auf den Rollstuhl angewiesen.
Objektiv gesehen, gelte ich mit meiner Osteogenesis imperfecta, Typ III,
und meinem amtlichen Ausweis als schwerstbehindert. Tatsächlich kam
mir jedoch die Tatsache meiner Behinderung erst in dem Augenblick schmerzhaft
zu Bewußtsein, als ich mit Eintritt der Pubertät auf massive
Partnerschaftsprobleme stieß. Bis dahin konnte mich meine Mutter
von allen Frustrationen weitgehend fernhalten, so daß ich die Realität
meines Andersseins kaum im negativen Sinne einer Behinderung wahrgenommen
hatte.
Behinderung ist, wie das Wort besagt, ein Umstand, der mich in einer
entscheidenden Funktion meines Lebens behindert. Dort, wo keine Beeinträchtigung
stattfindet oder diese nicht als solche empfunden wird, entbehrt folglich
Behinderung jeglicher Substanz. Der Angehörige eines Ackerbau und
Viehzucht treibenden Bantustammes, der aus irgendeinem Grunde nicht schwimmen
kann, wird diesen Mangel sein Leben lang nicht bemerken. Ebenso ist die
Beschränkung für seine Umgebung unwichtig. Sähe sich der
Eingeborene hingegen nach Polynesien versetzt und müßte seinen
Lebensunterhalt mit Perlenfischen verdienen, käme die Unfähigkeit
einer Katastrophe gleich. Der Betroffene wäre als Außenseiter,
sprich "Behinderter", gebrandmarkt und würde seinerseits die Stigmatisierung
als Minderwertigkeitsgefühl verinnerlichen.
In diesem Gesamtkontext ist auch die erneute Diskussion über "lebenswertes"
und "lebensunwertes" Dasein zu sehen, mit ihren weitreichenden Konsequenzen
auf den Gebieten der pränatalen Diagnostik, der medizinischen Versorgung
behinderter Säuglinge (einschließlich moderner Ansätze
zur Neoeuthanasie) und der aktiven oder passiven Sterbehilfe bei unheilbar
kranken, alten und behinderten Menschen. In all diesen Fällen wird
von der Auffassung ausgegangen, daß es einen mehr oder minder objektiv
festsetzbaren Mittelwert der Normalität gäbe. Die relative Entfernung
von diesem Mittelwert bedeute dann automatisch auch eine Einbuße
an Lebensqualität. In dieser Sichtweise wird weder dem Umstand Rechnung
getragen, daß ein solcher Mittelwert, wie bereits geschildert, in
höchstem Maße von subjektiven Bewertungskriterien des Betrachters
bestimmt wird, noch, daß die angebliche Selbstbestimmung eines Menschen
in ebenso eindeutiger Weise vom jeweiligen Umweltklima geprägt ist.
Kranke und Sterbende, Behinderte und Alleinstehende entwickeln ein extrem
gesteigertes Gefühl für latent vorhandene Stimmungen, die nicht
einmal des gesprochenen Wortes bedürfen. Was daher als freie, unbeeinflußte
Entscheidung des Betroffenen ausgegeben, häufig sogar in ehrlicher
Überzeugung als solche angenommen wird, ist, in Wirklichkeit, meist
die übersensibilisierte Reaktion auf Annahme oder Ablehnung. "Behinderung"
und "Normalität", "Lebensqualität" und "Selbstbestimmung"
sind keine festen Größen, auf die sich klare Handlungsanweisungen
aufbauen ließen. Vielmehr stellen sie Parameter dar in einem ständig
der jeweiligen wechselnden Situation angepaßten Prozeß.
Wenn aus der Sicht eines Betroffenen "Behinderung" also weniger ein
medizinisches, denn ein psychologisch-soziologisches Phänomen ist,
und auch "Normalität" eher als vage gesellschaftliche Übereinkunft
eines gemeinsamen Standards zu gelten hat, so müssen sich zwangsläufig
diese beiden Begriffe vom Grundsatz her ausschließen. Wo mir Behinderung
bewußt wird, erfahre ich sie gerade als das Anderssein, als Einschränkung
des Auslebens eben dieser Normalität. Umgekehrt gilt: Wo ich Normalität
bewußt als solche genieße, ist mir jede Vorstellung von Behinderung
fern. Die Forderung nach totaler Normalität, was immer dies nun bedeuten
möge, heißt folglich nicht mehr und nicht weniger als die gedankliche
Abschaffung meiner Behinderung.
Ist es jedoch überhaupt sinnvoll, einer umfassenden Normalität das Wort zu reden, unabhängig von der Beantwortung der Frage, inwieweit diese wirklich realisierbar ist? Die Flucht in die Ideologie des "Normalen", auch bei behinderten Menschen - und als Flucht muß der Wunsch wohl gesehen werden - ist die Verdrängung des "So-und-nicht-anders-Seins". Fredi Saal, zweifellos einer der überragenden zeitgenössischen deutschen Denker mit schwerer Körperbehinderung, formulierte vor einiger Zeit sinngemäß: "Wer nicht zu meiner Behinderung Ja sagen kann, kann auch nicht zu mir als Mensch Ja sagen." Dies gilt jedoch nicht nur für das Verhältnis der Umwelt zum behinderten Menschen. Der Gedanke berührt auch das Selbstverständnis der Betroffenen. Läßt sich der Ruf nach dem "Normalen" überhaupt mit der uneingeschränkten Akzeptanz der eigenen Person in Einklang bringen? Für mich, der sich durch Äußerlichkeiten unverschuldet einer Randgruppe zugerechnet sieht, ist die Identität mit diesem aufgezwungenen Außenseitertum auch zu einem Stück Selbstrespekt geworden. Ich möchte jedoch noch weiter gehen. Nicht nur für Menschen mit einer Behinderung, auch für jeden sogenannten Nichtbehinderten ist der Weg zum "Normalen", und darüber hinaus zur Normierung, ein Schritt in Richtung der eigenen Entfremdung. Ich glaube an die These, daß die meisten Probleme, denen wir, als Gehandicapte, uns in der Gesellschaft gegenübersehen, in der Regel generell gesellschaftliche Probleme sind. Der Unterschied zum mehr oder minder nichtbehinderten Bevölkerungsteil besteht lediglich darin, daß wir die gestellten Fragen weniger leicht verdrängen können und uns ihnen schutzloser ausgesetzt sehen. So vermögen wir, dank unserer Schwäche, zum Vorbild zu werden, denn was wir an Problemlösungen für uns selbst finden müssen, könnte sich möglicherweise auch als gangbarer Weg für die Gesellschaft als Ganzes erweisen. Dabei denke ich an die Überwindung von zwischenmenschlichen Kommunikationsproblemen, an die Einstellung zu Arbeit und Sinnerfüllung des Lebens und nicht zuletzt auch an die Behandlung des Themas "Normanpassung" und "Normalität".
Aus der Norm zu fallen, beinhaltet immer zwei Alternativen, die sich nicht zuletzt auch im Sprachlichen niederschlagen: Entweder man wird negativ abqualifiziert (= abnormal, anomal, unnormal), oder die Mitmenschen heben einen auf das Podest des Außergewöhnlichen (= enorm). Im Umgang mit dem Phänomen "Behinderung" lassen sich diese beiden Verhaltensweisen unschwer aufzeigen. In der Bevölkerung stehen nur wenige Bürger der Gruppe behinderter Menschen wertneutral gegenüber. Verdrängung ist das Schlagwort, welches das Verhältnis zwischen Menschen mit einer Behinderung und ohne eine solche treffend charakterisiert: Verdrängung, indem ich mich im buchstäblichen Sinne des Wortes abwende, dem Anblick ausweiche, mich der Konfrontation entziehe; Verdrängung aber auch, indem ich dem Alltäglichen keinen Raum gewähre und es durch das Außergewöhnliche überlagere.
Was ist daran "abnormal", behindert zu sein? Als Säugling und
Kleinkind sind wir behindert, weil wir uns nicht selber helfen können;
im Lebensherbst wiederum wird jeder von uns behindert, weil bestimmte Funktionseinschränkungen
mit fortschreitendem Alter naturgemäß einsetzen. Die Zeit, in
der ein Mensch tatsächlich unbehindert seine Tage genießen kann,
umfaßt im günstigsten Fall wenige Jahrzehnte, manchmal aber
auch nur Jahre. Ebenso wenig kann man es jedoch als "enorm" betrachten,
wenn ein blinder Mensch seine verbliebenen Sinne schärft, um das verlorene
Augenlicht auszugleichen, oder wenn ein ausschließlich Körperbehinderter
ohne geistige Beeinträchtigung Leistungen erbringt, die für einen
sogenannten Nichtbehinderten nicht außergewöhnlich sind. Warum
Menschen mit einer Behinderung dennoch manche Selbstverständlichkeiten
als aufsehenerregend, sprich "enorm", ausgelegt bekommen, hängt zum
Großteil mit dem Vor-Urteil, oder besser der Vor-Vorstellung, zusammen,
wie "der Behinderte" nach landläufiger Meinung auszusehen, zu leben,
tätig zu sein habe. Diese Vor-Vorstellung bewegt sich erfahrungsgemäß
in Kategorien des "Abnormalen", also der negativen Komponente des Normalen.
Wenn sich also tatsächlich eine für die Umwelt unerwartete Annäherung
an "Normales" ergibt, wird dies nicht selten zum Enormen umfunktionalisiert.
Wenn zwei das Gleiche tun, ist es eben noch lange nicht Dasselbe.
Die Akzeptanz des "Normalen" als "normal", auch bei behinderten Menschen,
wäre das Eingeständnis einer prinzipiellen Gleichheit zwischen
Personen mit und ohne Behinderung. Vor dieser Gleichstellung fürchtet
sich der nichtbehinderte Betrachter, erinnert sie ihn doch an die eigene
Hinfälligkeit. Hierin aber kulminiert die Debatte um Behinderung und
die Ideologie des "Normalen". Behinderung, und mit ihr jene, die behindert
sind, verweisen auf ein Schicksal, das jeden Menschen früher oder
später trifft. Je verbissener in der modernen Gesellschaft der Tatbestand
von Leid und Tod, wie er sich im behinderten Dasein wiederspiegelt, verdrängt
wird, desto kritischer gestaltet sich das Verhältnis zwischen behinderten
und nichtbehinderten Menschen. Die Auseinandersetzung um Normalität
und Behinderung ist ein Stück Auseinandersetzung mit der eigenen Stellung
zu Tod und Vergänglichkeit. "Normalität" bedeutet für die
meisten Menschen "Leben", "Behinderung" "Tod". Wenn ich die Augen schließe,
die Hinfälligkeit meines Körpers nicht zur Kenntnis nehme, kann
ich vielleicht dem Schicksal entgehen, das mir und jedem von uns bereitet
ist. Zerschlagen wir also den Spiegel, der uns an uns selbst erinnert!
Die Angriffe gegen behindertes Leben vom Mutterleib bis zum Sterbebett
sind deutliches Indiz eines solchen Befreiungsaktes.
Richard von Weizsäcker, der ehemalige Bundespräsident, hat in fast genialer Weise dem Paradox einen Titel gegeben: "Es ist normal, verschieden zu sein". So reizvoll es an dieser Stelle wäre, den Gedanken weiter zu verfolgen, so sinnvoll scheint es in einer Festschrift zum 100. Jahrestag des Caritas-Verbandes, die These auch unter religiösem Vorzeichen zu betrachten. Immer wieder hört man aus berufenem und weniger berufenem Munde das Wort: "Vor Gott sind alle Menschen gleich". Auf den ersten Blick wirken dieser Spruch und die Aussage von Weizsäcker deckungsgleich. Doch dem ist nicht so. Demjenigen, der durch seine äußere Erscheinung oder eine andere Stigmatisierung aus der tolerierten Bandbreite des "Normalen" herausfällt, spendet der Satz von der Gleichheit vor Gott oft nur wenig Trost. Er scheint die tatsächlich vorhandenen schwerwiegenden Unterschiede in unzulässiger Weise zu nivellieren, die Probleme, die aus ihnen resultieren, zu verharmlosen und die spezifische Situation des zu einer Randgruppe Gehörenden nicht hinreichend ernst zu nehmen. Statt des Gefühles, angenommen zu sein, stellt sich der dumpfe Beigeschmack des Patronisiertwerdens ein, wenngleich dies sicher keinesfalls in der Absicht des Sprechenden lag.
Es käme für Betroffene nicht zu solch ungutem Gefühl,
wenn nicht die Gleichheit so sehr propagiert, als vielmehr die Verschiedenartigkeit
stärker als Positivum, als konstituierendes Merkmal der Menschheit
betont würde. Tatsächlich läßt sich eine solche Aussage
sehr wohl in der Bibel finden. Nur wird die entsprechende Stelle meist
unter einem anderen Vorzeichen interpretiert. Im Buch Genesis, Kapitel
1, 27 lesen wir "Da schuf Gott den Menschen nach seinem Bilde; nach dem
Bilde Gottes schuf er ihn..." Aus der Antike ist der janusköpfige
Zeus bekannt. Es ist der Gott, der in sich die Vielgestaltigkeit verkörpert.
Ebenso verweisen die heterogenen Göttergestalten der Ägypter
oder das Pantheon des Hinduismus auf solche Vielfalt in der Einheit. Immer
wieder haben Exegeten die oben zitierte Gottesebenbildhaftigkeit als ein
gemeinsames Merkmal aller menschlichen Kreatur gedeutet. Sie stelle den
Unterschied zur nicht-menschlichen Schöpfung dar. Ohne einen derartigen
Ansatz als falsch verwerfen zu wollen, sei doch die Frage erlaubt: Wie,
wenn die Worte nicht primär etwas über den Menschen aussagen
sollten, als vielmehr einen Hinweis auf das Wesen Gottes gäben? Wir
sehen die sehr unterschiedlichen Formen von Menschsein, ob als Mann oder
Frau, Europäer oder Asiate, Muskelpaket oder verkrüppelter Zwerg.
Gleichzeitig hören wir, daß sich im Menschen, Gott wiederspiegle.
So, wie in den letzten Jahren Feministinnen mit eben diesem Argument einen
weiblichen Gott für sich reklamierten, so muß es auch uns behinderten
Menschen gestattet sein, uns einen blinden, einen lahmen, einen gehörlosen
Gott vorzustellen. Wer möchte sich dafür verbürgen, daß
Gott nur männlich, Europäer und nichtbehindert ist? Wenn aber
auch Blindheit, Taubheit, Lähmung als göttliches Attribut denkbar
wird, dann kann solche Behinderung nicht Defizit sein. Gott ist nicht defizitäres
Wesen. All dies ist ein Zeichen der Vielfalt, ein Zeichen der Nicht-Normierung,
der Freiheit, der ungebändigten Schöpferkraft.
Weizsäckers "Es ist normal, verschieden zu sein" müßten
wir daher ein "Verschiedenheit ist Gottesbeweis" an die Seite stellen.
Die Ausmerzung des Andersseins, wie es sich in jüngster Zeit in einer
übersteigerten Tendenz zur Gentechnologie, zur Pränataldiagnostik,
zur Aufweichung des Abtreibungsparagraphen, gerade auch in Bezug auf behinderte
Föten, und zur Liberalisierung der Sterbehilfe abzeichnet, ist ein
Angriff nicht nur gegen die Menschenwürde des schwächeren Teiles
der Gesellschaft. Es ist auch eine Attacke gegen Gott selbst. Schließlich
hat er den Menschen nicht als uniformes Wesen, sondern in seiner Mannigfaltigkeit
als Ebenbild seiner selbst geschaffen. Will sich jetzt der Mensch, in babylonischer
Hybris, über seinen Schöpfer erheben?
Welche Forderungen ergeben sich aus diesen Feststellungen für
den Caritas-Verband? Ich bin kein Verantwortlicher, der die Richtung der
nächsten Jahre mitbestimmen könnte. Doch wäre viel erreicht,
wenn sich die Erkenntnis durchsetzen würde, daß die Abwehr aller
Versuche, behindertes Leben anzugreifen oder auch nur zu diskriminieren,
nicht ein barmherziger Dienst an irgendeinem Nächsten ist, der sich
nicht selbst verteidigen kann, sondern - es sei mir das martialische Bild
erlaubt - ein Kampf an der Front vor der eigenen Haustür. Geht diese
Schlacht verloren, ist auch das Kernstück christlicher Weltanschauung
bedroht. Behinderung und die Ideologie des "Normalen" ist die Auseinandersetzung,
an der sich beispielhaft in den nächsten Jahrzehnten die Zukunft von
Kirche und Caritas entscheiden wird.
Möge Gott uns beistehen, daß
wir die Zeichen der Zeit richtig erkennen.