Peter Radtke

Als behinderter Künstler auf dem Staatstheater

Einführung

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
wenn man mich vor dreißig Jahren gefragt hätte, ob ich mir vorstellen könne, Schauspieler zu werden, hätte ich gewiss geantwortet: „Unmöglich!“ Wenn man mich vor zwanzig Jahren gefragt hätte, wäre meine Antwort wahrscheinlich gewesen: „Ich denke nicht.“ Vor zehn Jahren hätte ich auf dieselbe Frage vermutlich geantwortet: „Schon, aber es wird sehr schwer“. Und heute? Heute sage ich einfach: „Ja, warum nicht?“ Allerdings, und dies ist das A und O, die Voraussetzungen müssen stimmen. Damit meine ich nicht unbedingt, dass man nichtbehindert sein muss. Auch behinderte Menschen haben eine Chance, wenngleich, machen wir uns nichts vor, die Behinderung eine Einschränkung bedeuten kann – kann, aber nicht muss. Am schwersten haben es vermutlich jene Menschen mit einer Behinderung, die unter die Kategorie der Leichtbehinderten fallen. Wenn man schwerer behindert ist, kann sich die Behinderung in einzelnen Fällen sogar als Bonus erweisen. Doch davon später. 

Künstlerische Kurzbiografie

Es gibt keine typische Künstlerkarriere. Jede Biografie ist verschieden. Nur eine Gemeinsamkeit lässt sich feststellen: Künstlern mit einer Behinderung ist in der Regel der normale, der übliche Ausbildungsgang verwehrt. Sie sind in fast allen Fällen Quereinsteiger. Was sie brauchen, ist Mut, Talent und sehr viel Fleiß – vor allem aber auch eine gehörige Portion Glück.

Elternhaus

Wenn Leute hören, dass ich Schauspieler bin, wenn sie mich vom Fernsehen oder dem Theater her kennen, fragen sie oft, wie ich es geschafft habe. Antworte ich dann „Mein Vater war Schauspieler“, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und sie meinen: „Dann ist ja alles klar!“ Nichts ist klar. Dass ich mit dem Theater groß geworden bin, dass ich von Kindheit an selbst Theaterbesucher war, dass ich mit Theaterleuten Umgang hatte, dass ich schon in jüngsten Jahren meinem Vater Rollen abhörte, all dies hat vielleicht meine Berührungsängste zur Welt des „Fahrenden Volkes“ fortgewischt, bzw. gar nicht erst entstehen lassen. Doch damit ist keinesfalls gesagt, dass ich für eine Laufbahn auf der Bühne prädestiniert war. Im Gegenteil: Behinderte Akteure haben nichts auf der Bühne verloren. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz seit Jahrhunderten. So wie Frauen in der Frühzeit des Theaters von Männern dargestellt wurden und Farbige in den „Minstrel Shows“ von Weißen, die sich Gesicht und Hände schwarz einfärbten, so war, wenn überhaupt, die Rolle von Behinderten mit nichtbehinderten Darstellern besetzt. Aber auch Behinderung als Lebensform hatte auf den Brettern, die die Welt bedeuten, keinen Platz. Die Poetiken der alten Griechen, der Renaissance und des Barock sahen für niedrige Charaktere, und dazu gehörten zweifellos auch Behinderte, höchstens die Funktion des Verlachwerdens vor. Die Zeichen standen also äußerst ungünstig für mein Auftreten auf der Bühne, trotz des vermeintlichen Vorsprungs durch mein Elternhaus. 

Das Weihnachtsspiel des Amerika-Hauses

Ich erinnere mich noch an ein Vorkommnis, das ich im Alter von vielleicht sechs oder sieben Jahren erlebte. Ich besuchte in einer Gruppe von Buben und Mädchen einen Englischkurs des Amerikahauses. Es war dies einer der seltenen Fälle, wo ich als Kind mit gleichaltrigen Nichtbehinderten in Kontakt kam. Zu Weihnachten sollte ein kleines Krippenspiel aufgeführt werden. Da ich das Erlernen von Rollen von meinem Vater her kannte und glaubte, kein schlechterer Schauspieler als andere zu sein, bedeutete es für mich eine unheimliche Enttäuschung, als ich von der Gruppenleiterin nicht in das Weihnachtsspiel integriert wurde. Zu jener Zeit war die Einbeziehung körperbehinderter oder geistig behinderter Kinder in allgemeine Schul- und Kindergartenaktivitäten noch überhaupt nicht üblich. Solche Erfahrungen haben mich rasch auf den Boden der Realitäten gebracht.

Die Laienspielschar

Deshalb war ich auch schon nicht mehr frustriert, als mein Vater eine Laienspielschar gründete, mich aber nicht als aktiven Darsteller dort einband. Immerhin durfte ich den Souffleur machen, so dass ich wenigstens dazu gehörte. Allerdings hatte dies weniger mit eventuell vorhandenen Talenten zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass man mich leicht unter jedes Bett und hinter jeden Schrank stecken konnte. 

Das Germanistikstudium

Nach meiner Schulzeit – ich absolvierte die Volksschulpflicht über Privatunterricht und machte das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg – stand die Frage an: Was sollte ich studieren? Ich entschied mich neben dem Fach Romanistik für Germanistik, weil ich auf diese Weise am ehesten glaubte, meinem Berufsziel "Dichter" näher zu kommen. Wie wenig das Germanistikstudium mit der Verbesserung schriftstellerischer Fähigkeiten zu tun hat, wie kontraproduktiv es mitunter geradezu sein kann, stellte ich spätestens bei der Abgabe meiner ersten Hausaufgabe an der Uni fest. Dennoch würde ich heute sagen, dass auch diese Studienwahl etwas mit meinem späteren Werdegang zu tun hatte. Die kritische Beurteilung von Texten, die enorm wichtig ist, wenn ein Mensch mit Behinderung auf die Bühne geht, wurde auf diese Weise entwickelt und geschärft. Darüber hinaus blieb die Verbindung zur Welt des Theaters zumindest auf theoretischer Basis erhalten. 

Der Volkshochschulkurs – „Licht am Ende des Tunnels“ – Das Münchner Crüppel Cabaret

Als ich nach Abschluß meines Studiums und der Promotion sowie einer Durststrecke von eineinhalb Jahren Arbeitslosigkeit endlich eine Stelle als Fachgebietsleiter für Behindertenarbeit an der Münchner Volkshochschule fand, war eines der ersten Kursangebote, die ich ins Leben rief, ein Theaterworkshop. Ich leitete die Veranstaltung nicht selbst, dies tat ein junger Schauspieler des Münchner „Theaters der Jugend“, aber ich schrieb mich sogleich als einer der ersten Teilnehmer ein. Das war quasi der Beginn meiner Schauspielkarriere, wobei die echte professionelle Betätigung noch Jahre auf sich warten ließ. Unsere Produktion „Licht am Ende des Tunnels“ war vermutlich das erste deutsche Behindertenstück mit authentischen Darstellern auf einer staatlich subventionierten Bühne. Heute bin ich stolz darauf, dass wir es damals schafften, denn wir halfen mit unserm Engagement, ein Tabu zu brechen und Wegbereiter zu werden für eine Entwicklung, die in diesen Tagen weite Kreise der Kulturlandschaft ergriffen hat.

1980 gründete ich mit dem damaligen Dramaturgen des „Theaters der Jugend“, Werner Geifrig, das Münchner Crüppel Cabaret. Auch hier spielte ich als Darsteller wieder selbst mit. Doch auch dies war noch immer Amateurtheater. Damit will ich keine Wertung verbinden, sondern lediglich eine gewisse Kategorisierung vornehmen. 

Das erste eigene Stück

Die erste ernste Bewährungsprobe sowohl als Schauspieler wie auch als Autor war ein Monolog, den ich 1981 zum Internationalen Jahr der Behinderten uraufführen konnte, „Nachricht vom Grottenolm“. Mit diesem Stück begann das, was ich eine berufliche Theaterkarriere nennen würde, obwohl es noch Jahre dauern sollte, bis ich mich als echter Profi fühlte. Was ist der Unterschied zwischen Laienspieler oder Amateur und professionellem Schauspieler? Zweifellos sind die Grenzen fließend, und es geht nicht allein darum, ob man für das Agieren Geld bekommt oder nicht. Ich habe mir eine sehr persönliche Unterscheidung zurecht gelegt: Wenn die Freude am Spiel zur Arbeit wird, wenn man auch dann spielt, wenn man eigentlich keine Lust dazu hat, wenn man begreift, dass Theater auch Leid, Qual, Misserfolg sein kann, dann ist für mich die Grenze vom Laientheater zum professionellen Theater überschritten. Das heißt nun nicht etwa, dass man im Profitheater nicht auch Freude am Spiel haben kann, aber es ist noch etwas Anderes dabei, etwas, das in der Bezeichnung „Beruf“ steckt: die Berufung. Es ist ein Ruf, der einen festhält, so dass man nicht mehr von der Bühne lassen kann, eine Droge, die einen zum Agieren treibt und die auch nicht vor der Tatsache Halt macht, dass man behindert ist.

Bei mir begann diese Droge, wie gesagt, mit „Nachricht vom Grottenolm“ zu wirken. Das Stück erlebte über vierzig Aufführungen an einem Münchner Privattheater und ich genoss zum ersten Mal das Opium „Publikumsapplaus“. Die Kritik war verhältnismäßig wohlwollend, gemessen an dem, was später folgen sollte. Dies hing wahrscheinlich damit zusammen, dass ich allein auf der Bühne stand, dass es sich um ein Privattheater jenseits der großen Staatsbühnen handelte, und schließlich dass man es als eine reizvolle, wenngleich exotische Abwechslung betrachtete. 

München, Wien, Zürich

Dieses Klima sollte sich schlagartig ändern, als ich 1985 erstmals an den Münchner Kammerspielen auftrat. Wie war es dazu gekommen? Der bekannte ungarische Regisseur George Tabori suchte ein behindertes Kind für seine moderne Medeaversion „M“. Nachdem man sich lange Zeit vergeblich nach einem geeigneten Opfer umgeschaut hatte, kam man auf die Idee, mich zu fragen, ob ich diese Rolle übernehmen würde. Es würde hier zu weit führen, die verschlungenen Wege nachzuzeichnen, die George Tabori und ich in den Folgejahren zurücklegten. Immerhin war dies der Beginn einer Zusammenarbeit, die mit Unterbrechungen bis heute andauert und aus der ich sehr viel gewonnen habe. Die Erfahrung, die ich aus der Probenarbeit und den Aufführungen sammeln konnte, haben mich damals so bewegt, dass ich sie in einem Buch, „M, wie Tabori“ verarbeiten musste. Gewiss hätte meine Bühnenlaufbahn anders ausgesehen, ja sie wäre vermutlich niemals angetreten worden, wenn ich Tabori nicht begegnet wäre. Gerade dieser Regisseur verstand es, nicht nur meine  künstlerischen Fähigkeiten zu entwickeln und zu fördern, sondern er gab mir auch Mut, mich von innen heraus zu öffnen. Ich habe später noch mit anderen Regisseuren zusammengearbeitet, Franz-Xaver Kroetz, Karin Henkel, Michael Verhoeven, um nur einige zu nennen, doch keiner hat so wie Tabori mich auch in meiner persönlichen Entwicklung geprägt. 

Tabori

An dieser Stelle muss ich einen kleinen Exkurs über Tabori einfügen. Das Grußwort zu diesem Kongress hat einige Irritation verursacht. Da steht der für viele Betroffene geradezu als Reizwort wirkende Satz „Wir sind alle behindert“. Das mögen Menschen, die im Rollstuhl sitzen, die gehörlos oder blind sind, fast als Beleidigung empfinden. Lassen sich die tatsächlichen oder vorgegebenen Wehwehchen anderer mit unseren existentiellen Einschränkungen vergleichen? Sie können mir glauben, ich bin sehr sensibel in solchen Dingen. Aber ich habe lange genug mit Tabori zusammengearbeitet, um zu wissen, wie ernst er es mit dieser Aussage meint. Immer wieder hat er mich auf die seelischen Verkrüppelungen meiner scheinbar nichtbehinderten Schauspielkollegen aufmerksam gemacht. Immer wieder hat er die Frage gestellt: Was ist Behinderung und wie äußert sie sich?  In fast all seinen Stücken taucht an irgendeiner Stelle die Figur einer Behinderten oder eines Behinderten auf, und es sind nicht unbedingt mitleidenswerte Geschöpfe, deren Charaktere er zeichnet. „Wir sind alle behindert“ ist eine Überzeugung Taboris, die nichts mit dem oberflächlichen Gewäsch vieler geistloser Zeitgenossen zu tun hat.

Mindestens ebenso provozierend ist dann die These, dass wir von unserer Behinderung nur auf zwei Wegen befreit werden können: durch den Tod oder das Theater. Man könnte diese Ansicht als Ausdruck eines alten Mannes verstehen, der hochgradig schwerhörig ist, kaum mehr sieht und an Prostata leidet. Aber der Gedanke geht tiefer. Behinderung ist für Tabori Teil des Menschen – und auch wenn ich Gefahr laufe, missverstanden zu werden – vielleicht auch Teil der Erbsünde. Diese hat nichts zu tun mit einer individuellen Schuld sondern ist der religiösen Dimension zuzurechnen. Von dieser Erbsünde befreit uns nur der Tod, oder eben die Kraft des Theaters. Ich weiß, dass für viele diese Denkweise nicht nachvollziehbar ist. Jedoch Tabori vorzuwerfen, hirnlos eine Schirmherrschaft übernommen zu haben und überhaupt nicht zu wissen, was Sache ist, zeugt nur davon, wie wenig man sich mit den Auffassungen dieses großen alten Mannes des deutschen Theaters auseinandergesetzt hat.

Wie wird man als behinderter Mensch Schauspieler?

Kehren wir zu unserm eigentlichen Thema zurück: Wie kommt man als behinderter Mensch auf die Staatstheaterbühnen der Welt. Zwar ist „Welt“ vielleicht ein bisschen übertrieben, aber immerhin kann ich  bereits auf Engagements am Burgtheater Wien, an den Münchner Kammerspielen und am Schauspielhaus Zürich zurückblicken. Auch hatte ich schon Gastspiele in Antwerpen, Cividale, Prag, Pressburg, Jerusalem, Paris, um nur die ausländischen Bühnen zu nennen. Wie ich andeutete ist die Biografie eines Menschen vielleicht Hilfe zum Verständnis für seinen Werdegang, niemals jedoch eine ausreichende Erklärung. 

Mit Mut

Am Anfang steht der Mut, der Mut sich zu exponieren mit dem Risiko des Fehlschlages, Mut, sich auf gleicher Ebene mit hochqualifizierten Schauspielkollegen zu messen und schließlich Mut, sich seinen eigenen Gefühlen hinzugeben. 

Mut, sich zu exponieren mit dem Risiko des Fehlschlages

Brecht: Theater ist Prostitution
Bert Brecht hat einmal gesagt, Theater sei Prostitution. Tatsächlich liefert man sich auf der Bühne dem Publikum aus. Es liegt in der Natur des Menschen, seine Schwachstellen zu verstecken, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Vielleicht kennen auch Sie spastisch gelähmte Hemiplegiker, die ihre behinderte Hand verstohlen hinter der gesunden verbergen. Auf der Bühne gibt es kein Verbergen. Man ist schonungslos den Blicken fremder Menschen ausgesetzt. Solange du einen schönen, ebenmäßigen Körper hast, kann es vielleicht sogar Lust bereiten, wenn dich andere betrachten. Wie aber, wenn dieser Körper verkrüppelt ist? Viele Menschen mit einer Behinderung sind in ihrer Jugend von Frustrationen fern gehalten worden. Sie wurden in der Familienobhut oder in Sondereinrichtungen quasi in Watte gepackt. Jeder sanfte Lufthauch wurde von ihnen ferngehalten, ganz zu schweigen von stürmischen Winden. Zum Theater gehört Mut, Mut sich zu exponieren. Das gilt für Menschen mit Behinderung, aber auch für Menschen ohne Behinderung. Wenn jemand jedoch behindert ist, dann muss er vielleicht ein bisschen mehr Mut aufbringen als üblich, um die Hemmschwelle zu überwinden, sein Innerstes nach außen zu kehren. 

Das hast du doch gar nicht nötig...
Als ich das erste Mal professionell auf der Bühne stand, sagte meine Frau: „Warum tust du das? Das hast du doch gar nicht nötig!“ Ich habe oft über diesen Satz nachgedacht, und ich bin heute zu dem Schluss gekommen, dass gerade wir behinderten Menschen es nötig haben. Das Theater zeigt uns von einer Seite, die uns unsere Umwelt nicht zutraut. Sie kann sich nicht vorstellen, dass wir kreativ sind, dass wir nicht nur nehmen können sondern auch geben, dass wir durch das Theater eine Ganzheit bekommen, die man uns gemeinhin abspricht. Ich werde noch einmal darauf zurückkommen.

Mut, sich auf gleiche Ebene mit Profis zu stellen

Es gibt jedoch noch eine zweite Art von Mut, die man aufbringen muss, wenn man als behinderter Darsteller auf die Bühne geht. Ich deutete bereits an, dass uns in der Regel eine berufliche Ausbildung verschlossen bleibt. Wenn wir nun aus dem Schatten des sogenannten Amateurtheaters heraustreten, wo alle auf derselben Ebene stehen, wenn wir uns in die große Welt des Berufstheaters begeben, dann messen wir uns mit Kollegen, die uns handwerklich vieles voraus haben. Wir müssen mit Talent, mit Enthusiasmus, mit Wahrhaftigkeit das ausgleichen, was uns vorenthalten wurde und was uns deshalb fehlt. Das Schlimmste, was uns passieren kann ist, dass wir nicht mithalten können, und das Publikum beschwichtigend sagt: „Nun ja, dafür dass es ein Behinderter ist...“

Als ich mit Tabori arbeitete, hat es dieser Zauberer immer verstanden, die Kluft zwischen mir und meinen Mitspielern einzuebnen. Dadurch, dass er uns anleitete, aus unseren eigenen Gefühlen heraus zu agieren, indem er uns lehrte, unsere Persönlichkeit nicht zu negieren sondern in das Spiel bewusst einzubringen, gab es keinen Rückzug auf technische Tricks und Kniffe. Somit wurden wir in gewisser Weise alle gleich. Keiner war ein Star, und keiner machte etwas „richtiger“ als der andere. Im übrigen gab es kein „richtig“ oder „falsch“ sondern lediglich ein „wahrhaftig“ oder „künstlich“. Dass dies keinesfalls üblich ist, lernte ich bei einer Inszenierung des Stückes „Stalin“ von Gaston Salvatore an den Münchner Kammerspielen. In dem Zwei-Personen-Stück spielte ich den Diktator, während ein bekannter Schauspieler – den Namen will ich lieber nicht sagen – den jüdischen Theaterdirektor Sager darstellte. Auf Schritt und Tritt ließ er mich spüren, was er von einem unausgebildeten Mitspieler hielt, der zu allem Überfluss noch behindert war. Nach drei Wochen Probenzeit war das Experiment gescheitert. Ich spielte dann doch noch Stalin – mit einem anderen Kollegen, der mit anderer Auffassung an die Sache ging. Es wurde dann zwar nicht meine beste Rolle, aber ich schaffte doch die Gestaltung eines Mammuttextes in einer Weise, dass ich heute dazu stehen kann.

Mut, sich fallen zu lassen

Die Art, wie Tabori seine Inszenierungen anzugehen pflegte, verlangte – wie bereits angedeutet – dass man seinen Gefühlen nachgab und sich gewissermaßen fallen ließ. Für mich war dies auch ein Akt des Mutes. Ich habe mich als Privatperson immer davor gehütet, mich zu sehr meinen Emotionen hinzugeben. Man wird dadurch leichter verletzbar. Menschen mit einer Behinderung dachte ich – und denke ich noch heute – können sich dies nicht leisten. Wir brauchen unsern Panzer, der uns vor den vielen kleinen Kränkungen schützt, denen wir tagtäglich ausgesetzt sind. Nun aber war ich in dem Dilemma, entweder mich zu öffnen und meinen Schutz aufzugeben oder den Anforderungen, die der Regisseur an mich stellte, nicht gerecht werden zu können. Ich habe mich geöffnet, und ich habe schmerzliche, aber auch unheimlich bereichernde Erfahrungen gemacht. Heute versuche ich, das Gelernte dahingehend umzusetzen, dass ich zwischen Bühne und Leben stärker zu trennen bemüht bin. Immer gelingt dies nicht, doch es hilft, das innere Gleichgewicht zu wahren. 

Mit Talent

Oft sagt man, zum Schauspielern gehöre Talent. Ich bin mir nicht sicher, ob dies uneingeschränkt zutrifft. Vielmehr glaube ich, dass jeder Mensch eine innere Begabung zum Theaterspiel hat. Sehen Sie nur kleine Kinder an. Nur wenige von ihnen sind keine begnadeten Schauspieler. Erst mit zunehmendem Alter verlieren sie diese Gabe. Man treibt sie ihnen aus, man macht ihnen vor, dass Theaterspielen kindisch sei, dass Erwachsene so etwas nicht mehr tun. Dieser Druck von außen, der die natürliche Begabung des Menschen verschüttet, wirkt sich noch stärker bei Leuten wie uns aus. Da kommt hinzu, dass man uns eine Karriere auf der Bühne nicht zutraut. Man fragt nicht, welche Bereicherung einem das Theaterspielen eventuell bringt; man denkt nur an die einkommenssichernden Berufe auf dem ersten Arbeitsmarkt, an die Werkstätten für Behinderte oder an die Verwahrung in sogenannten Förderstätten – was wirklich gefördert wird, bleibe einmal vor. Ich kannte eine hochbegabte Tänzerin; sie war gehörlos. Ihr stand eine glänzende Karriere bevor, vorausgesetzt, sie fand ein entsprechendes offenes Ensemble. Aber ihre Eltern glaubten nicht an die Möglichkeit einer künstlerischen Berufswahl und verhinderten eine Chance, die ihre Tochter über ihre Behinderung hinausgehoben hätte. In dieser Hinsicht haben es jene Glückspilze leichter, die, wie ich, in einem Theaterhaushalt aufgewachsen sind. Noch einmal sei es gesagt: ich habe sicher nicht irgendeine Begabung von meinem Vater geerbt, aber ich habe auch nicht jene Widerstände erfahren, die üblicherweise einem Betroffenen entgegengebracht werden, der auf die Bühne gehen will.

Talent ist zu 2/3 Arbeit und zu 1/3 Umwelteinfluss
Talent, so bin ich also überzeugt, hat am Beginn seines Lebensweges jeder. Es ist nur die Frage, ob dieses Talent gefördert wird oder zugeschüttet. Das, was man gemeinhin Talent nennt, ist meines Erachtens zwei Drittel Arbeit und ein Drittel Umwelteinfluss. Über den Umwelteinfluss haben wir bereits gesprochen.

Arbeit und Ausdauer

Der Begriff „Theaterspiel“ suggeriert, dass es sich um Spielen handele. Das trifft nur in sehr eingeschränktem Maße zu, zumindest, wenn es um das professionelle Theaterspiel geht. Ich habe selten so intensive und anstrengende Arbeit erlebt, wie gerade am Theater. Das beginnt schon ganz simpel bei der Arbeitszeit. Während der Proben wird an sechs Werktagen geübt. Wer dann das Glück oder Pech hat, in mehreren Stücken gleichzeitig eingesetzt zu sein, kann leicht auch den Sonntag noch Vorstellung haben. Sechs Stunden auf der Probebühne und dann vielleicht noch vier Stunden Abendarbeit, da kann man wahrhaftig nicht mehr von Spielen reden. Doch diese Belastung ist noch das geringste Übel. Schwerer wiegt vielmehr der psychische Druck, der mit jedem Tag auf die Premiere hin zunimmt. Es ist nicht von ungefähr, wenn so viele Schauspielerinnen und Schauspieler Alkoholiker werden. Warum man dennoch auf die Bühne geht, ist ein Geheimnis, das ich seit Jahren zu ergründen suche. Der große Gerd Voss, mit dem ich einige Wochen am Wiener Burgtheater probte, begann jede Probe damit, eine halbe Stunde zu jammern, welcher „Scheißjob“ das Theaterspielen sei – nur um anschließend hinreißende Aufführungen hinzulegen. Mein Vater sank mit den Jahren vom Starschauspieler eines Stadttheaters bis zum Darsteller kleiner Chargen herab, und doch wäre er fast daran gestorben, als er die Bühne verlassen musste. Theater hat eine Magie, die nur der begreifen kann, der ihr verfallen ist.

Glück

Wenn ein behinderter Schauspieler Erfolg haben will, gehört aber neben all dem bereits Gesagten eine wichtige Komponente hinzu – und vielleicht ist dies die wichtigste überhaupt: Glück. Ich hätte nie eine solch steile Karriere gemacht, wenn ich nicht Tabori begegnet wäre. Quereinsteiger brauchen Menschen, die sie entdecken. Behinderte Darsteller brauchen Regisseure, die sich nicht vor Wagnissen fürchten. Wer nur auf den ausgetretenen Pfaden des herkömmlichen bürgerlichen Theaters wandelt, wird einem behinderten Akteur nie eine Chance geben. 

Erlauben Sie mir, die kleine Episode zu erzählen, wie ich mit Tabori in Kontakt kam, um Ihnen zu zeigen, von welchen Zufälligkeiten eine Laufbahn abhängen kann. Tabori sah mich das erste Mal während einer Aufführung des bereits erwähnten Stückes „Licht am Ende des Tunnels“. Es waren die Münchner Stadtteilwochen, wir spielten in einem Zelt und Tabori sollte nach unserer Vorstellung seine Inszenierung des „Untergangs der Titanic“ von Magnus Enzensberger zur Aufführung bringen. Als er das Zelt betrat, ging gerade ein mächtiger Gewitterregen über München nieder. Die Regentropfen prasselten auf das Leinendach und vom gesprochenen Text  war kaum mehr etwas zu verstehen. Wir mühten uns nach besten Kräften, waren aber letztlich doch sehr frustriert, als das Ende erreicht war. Trotzdem beglückwünschte uns Tabori nach Abschluss der Vorführung überschwänglich. Damals glaubte ich, er wolle sich über uns lustig machen. Erst viel später, als ich ihn besser kennenlernte, begriff ich, warum ihn die Interpretation so faszinierte. „Widerstände sind dazu da, überwunden zu werden.“ In seinen Augen hatten wir dies hervorragend gemeistert. Hätte er mich in jenem Zelt nicht als sich abstrampelnder Schauspieler erlebt, wäre ich vermutlich nie an die Münchner Kammerspiele und danach an viele große Häuser im In- und Ausland gekommen.

Manchmal muss das Glück aber auch erst erzwungen werden. Der zweite Regisseur, mit dem ich arbeitete, war Franz-Xaver Kroetz. Er betrat die Bildfläche, als Tabori München verlassen hatte, und ich ohne Mentor dastand. Ich hatte einen Text, den ich unbedingt spielen wollte: "Bericht für eine Akademie" von Franz Kafka. Doch wer würde es mit mir umsetzen? Ich ging in Gedanken die verschiedenen Regisseure durch und blieb bei Franz-Xaver Kroetz hängen. Ich schaute ins Telefonbuch, und tatsächlich fand ich dort seinen Namen. Dann habe ich frech angerufen – der Anrufbeantworter war lediglich eingeschaltet – und sagte: "Hätten Sie nicht Lust, mit mir Kafkas "Bericht für eine Akademie" einzustudieren. Bitte rufen Sie mich doch zurück." Und tatsächlich, Frechheit siegt. Die Inszenierung wurde später über hundert Mal aufgeführt.

Was erwartet einen als behinderter Darsteller?

Wenn man es geschafft hat, den Fuß in die Tür zu bekommen mit Mut, Arbeit und durch Glück, was erwartet dann einen?

Ablehnung

Bitte glauben Sie nicht, Leute wie wir würden mit offenen Armen empfangen. Zunächst einmal treffen wir auf Ablehnung. Von der Ablehnung mancher Kollegen habe ich bereits gesprochen. Ablehnung gibt es aber auch von vielen Kritikern. Dies war zumindest der Fall, als ich mit meiner Bühnenlaufbahn begann. Damals schrieb ein bekannter Feuilletonist, Gerhard Stadelmaier, in der Stuttgarter Zeitung: "Das Theater darf viel, das darf es nicht". Und ein Kollege von ihm meinte: "Ein interessantes Experiment, aber es sollte nicht wiederholt werden". Um was es tatsächlich ging, nämlich dass behinderte Menschen nichts auf der Bühne verloren haben, zeigte das Verhalten des Münchner Kritikerpapstes Georg Kaiser. Als ich in "Glückliche Tage" von Samuel Beckett den Willie spielte, schrieb er: "Warum lässt man Radtke einen Behinderten spielen. Es wäre interessanter, ihn in einer Nichtbehinderten-Rolle zu sehen". Die nächste Aufführung war dann der bereits erwähnte "Stalin" von Gaston Salvatore. Nun musste ich von ihm sinngemäß lesen: "Stalin war ein nichtbehinderter Diktator; was hat dies mit Radtkes Behinderung zu tun?"

Schließlich aber sind auch die Zuschauer zu nennen, die in einem Stadt- oder Staatstheater natürlich zunächst nicht darauf gefasst sind, mit einem behinderten Schauspieler konfrontiert zu werden. Von ihnen habe ich allerdings die wenigste Ablehnung erfahren. In der Regel war es eher Überraschung, wenn sie sich plötzlich einer völlig neuen Situation gegenüber sahen. Ich darf allerdings nicht verhehlen, dass es auch einzelne gab, die während der Vorstellung den Raum verließen. Dabei handelte es sich jedoch weniger um direkte Abweisung – wir sind dem oftmals auch nachgegangen – als vielmehr um eine derartige Betroffenheit, dass die so Berührten dem Fortgang der Handlung nicht mehr folgen wollten und konnten. Im Gegensatz zu vielen Kollegen spiele ich gerne Abonnementvorstellungen. Dort begegne ich nämlich Zuschauern, die nicht wegen mir oder der Auseinandersetzung um "Behinderung auf der Bühne" ins Theater gehen, sondern weil es eben Mittwoch oder Donnerstag ist. Plötzlich aber müssen diese Leute sich mit einem Problemkomplex auseinandersetzen, den sie sonst wahrscheinlich nie angegangen wären.

Vorurteile

Die Vorurteile, denen wir generell auf den verschiedensten Ebenen im täglichen Leben begegnen, prägen natürlich auch den Alltag im Theater. Da ist zum Beispiel die Angst, der behinderte Schauspieler könne ein Risiko für die Produktion sein. Jeder der Verantwortlichen glaubt ja zu wissen, dass Behinderte sehr krankheitsanfällig sind. Noch keine einzige Vorstellung musste wegen mir ausfallen, was ich von nichtbehinderten Kollegen nicht gerade sagen kann. Ich gebe allerdings zu, dass dieses Vorurteil mich fast ins Grab gebracht hätte. Als ich zuletzt in Zürich spielte und ständig mit dem Flugzeug zwischen Zürich und München pendelte, merkte ich, wie ich gesundheitlich immer mehr abbaute. Ich wollte mich in ärztliche Behandlung begeben, einmal richtig durchchecken lassen, aber ich schob es immer wieder hinaus, weil ja die Vorstellungen anstanden. Nach Beendigung der Aufführungsreihe suchte ich dann den Arzt auf – fast zu spät. Der Luftröhrenschnitt, dessen Überrest die Kanüle ist, rettete mich vor dem Schlimmsten. 

Intendanten und Dramaturgen haben darüber hinaus mitunter furchtbare Angst, sie könnten durch das Auftreten behinderter Darsteller das Publikum überfordern. Dass dem nicht so ist, haben nicht nur meine Erfolge auf der Bühne bewiesen. Das Atelier Blaumeier oder die französische Gruppe L'oiseau mouche begeistern ihre Zuschauer, die sich keinesfalls nur aus Insidern rekrutieren. Interessant ist es zum Beispiel, den Weg der Tabori-Inszenierung von Kafkas "Bericht für eine Akademie" am Wiener Burgtheater zu verfolgen. Zuerst spielte ich bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung des Österreichischen Parlaments. Man dachte damals, es handle sich um einen einzigen Auftritt. Nach dem künstlerischen Erfolg, entschied man sich, das Stück ins Theater zu holen, allerdings in die Werkraumbühne mit ca. 90 Sitzplätzen. Als auch hier keine negative Stimmung aufkam, vielmehr die Vorstellungen stets ausverkauft waren, durfte ich in das zweite Haus des Burgtheaters, das Akademietheater mit ungefähr 400 Plätzen. Die Krönung meiner Laufbahn waren dann zwei Aufführung im Großen Haus mit über 900 Plätzen, dem Mekka jedes deutschsprachigen Schauspielers. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Worte des Intendanten der Münchner Kammerspiele, Dieter Dorn, der mir einmal sagte: "In einem großen Haus werden Sie nie spielen; das müssen Sie sich aus dem Kopf schlagen. Dafür reicht Ihre Stimme nicht, und außerdem müssen wir Rücksicht auf die Zuschauer nehmen."

Der Spagat zwischen Freakshow und Künstlerlaufbahn

Das Publikum ist progressiver als es die Theaterverantwortlichen wahr haben wollen. Das ist eine Erkenntnis, die ich in rund zwanzig Jahren professioneller Theaterarbeit gewonnen habe. Dennoch kann man nicht übersehen, dass es tatsächlich Gefahren gibt, die in Zusammenhang mit behinderten Darstellern auf der Bühne stehen.

Die Gefahr der Manipulation

Ich wehre mich gegen manche beschützende und damit gleichzeitig bevormundende Kritik, die glaubt, ich sei der Spielball irgendeines verrückten Regisseurs. Dieser Ansicht begegnet man immer wieder, weil es anscheinend üblich ist, behinderten Menschen keine Urteilsfähigkeit zuzutrauen. Allerdings ist tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, dass die Gefahr stets vorhanden ist, Opfer von Manipulationen zu werden. Dies betrifft aber nicht nur behinderte Schauspieler sondern Schauspieler generell. Es ist eine Gratwanderung und insbesondere behinderte Menschen haben eine spezielle Pflicht, sich die einzelnen Projekte genau anzuschauen, bei denen sie mitmachen. In dieser Hinsicht bin ich froh, dass ich nicht als festes Ensemblemitglied an einem Theater engagiert bin. Dann muss man nämlich spielen, was einem vorgegeben wird. Deshalb würde ich davor warnen, sich nur auf eine Schauspielerkarriere festzulegen. 

Die Rollenwahl

Welche Charaktere man verkörpert, spielt eine entscheidende Rolle. Man kann durch die Besetzung einer bestimmten Figur mit einem behinderten Darsteller völlig neue Perspektiven eröffnen. Man kann aber auch Klischees festigen und befördern. Auch wenn wir es vielleicht innerlich ablehnen, wir tragen in unserm öffentlichen Tun mehr Verantwortung als sogenannte "normale" Schauspieler. Das einfache Publikum wird von unserm Auftreten immer Rückschlüsse auf die Realität behinderter Menschen ziehen. Deshalb darf man nicht zu jedem Rollenangebot ja und amen sagen. Es ist aber auch eine einmalig Chance, Bewusstseinsänderungen einzuleiten, die auf herkömmliche Weise nicht zu erreichen wären.

Warum gehe ich auf die Bühne?

Befriedigung

Warum ich trotz etlicher Rückschläge, Ablehnungen und Selbstzweifel doch immer wieder den Weg auf die Bühne finde, lässt sich nur schwer erklären. "Der Applaus ist das Brot des Künstlers", sagt man. Tatsächlich kann nichts den Moment ersetzen, den man erlebt, wenn einen nach anstrengender Aufführung das Klatschen der Hände wie ein Ozean umspült. Gibt es dann vielleicht noch den einen oder anderen Bravoruf, ist die Glückseligkeit vollkommen. Vergessen ist die ganze Schinderei und alle unangenehmen Begleitumstände, die sich um die Theaterarbeit ranken. 

Das Gefühl der Integration

Ein weiterer Grund für meine Liebe zum Theater hängt mit dem Bewusstsein zusammen, gleichberechtigt in einer Gemeinschaft integriert zu sein. Vor kurzem hörte ich die treffende Umschreibung von Integration: das Gefühl gebraucht zu werden. Bei einer Aufführung wirst du gebraucht, unabhängig davon, wie groß deine Rolle ist. Wenn du nicht an einer bestimmten Stelle deinen Text sagst oder deine Handlung ausführst, bricht die gesamte Inszenierung zusammen. Natürlich gibt es jene Schwierigkeiten, von denen ich berichtet habe, aber im allgemeinen lässt sich doch sagen: das Theater ist der Modellfall für Integration in die Gesellschaft.

Die Suche nach der Ganzheit

Schließlich aber, und dies ist vielleicht ein persönliches Problem, finde ich auf der Bühne eine Ganzheit wieder, die mir im täglichen Leben oft abgesprochen wird. Ich erlebe immer wieder, dass man mich nur mit meinem Kopf wahrnimmt, dass man sagt: "Der ist ja so intelligent". Ein Bekannter von uns meinte sogar einmal: "Der Junge bräuchte doch überhaupt keinen Körper. Der Körper ist nur hinderlich. Da würde doch der Kopf genügen ". Nein – der Mensch besteht nicht nur aus Kopf, so wie er auch nicht nur aus Körper besteht. Im Theater wird deutlich, dass Körper und Kopf eine Einheit bilden. Wir spielen mit dem Körper und wir gestalten mit dem Kopf, immer vorausgesetzt, der behinderte Darsteller lässt sich nicht als bloße Staffage missbrauchen.

Die Chance des behinderten Darstellers

Kann jemand mit einer Behinderung Schauspieler werden? Zweifellos hängt es von der Behinderung ab. Es gibt Behinderungsarten, die größere Chancen eröffnen und andere, die eine Tätigkeit auf der Bühne nicht oder kaum möglich erscheinen lassen. Dabei spreche ich nicht von Theater vor Angehörigen und Freunden. Hier sind selbstverständlich die Grenzen wesentlich weiter gezogen. Es geht um Theater vor einer behindertendistanzierten Öffentlichkeit. 
Eine ausschließliche Konzentration auf den Beruf des Schauspielers halte ich im Falle von Menschen mit einer Behinderung für riskant. Zum einen gibt es zu wenig geeignete Rollen – selbst wenn es sie gäbe, bliebe offen, ob man sie einem behinderten Darsteller anvertrauen würde – zum andern müsste man im Falle des Schauspielens als Broterwerb auch zu Stücken und Rollen ja sagen, hinter denen man eventuell nicht mehr mit gutem Gewissen stehen kann. Als ein Teilbereich von anderen künstlerischen Tätigkeiten ist der Beruf des Schauspielers auch für Interessenten mit einer Behinderung bereichernd und sinnerfüllend. Sofern man es geschafft hat, einflussreiche Persönlichkeiten auf seine Seite zu ziehen, kann die Behinderung sogar zu einem Bonus werden. Wenn ich Stalin spiele oder den Hauptmann in „Woyzeck“, habe ich wenig Konkurrenz zu fürchten, vorausgesetzt der Regisseur besteht auf seiner Besetzung gegen den Strich. Ich verdanke meinen Sprung auf die großen Staatstheaterbühnen nur zum Teil meinen Fähigkeiten. Eine gewichtige Rolle spielte, und spielt noch immer, meine Behinderung, ohne die ich vielleicht ein kleiner Provinzschauspieler geworden wäre. 
Wagen wir uns aus unserm Schneckenhaus! Ziehen wir uns nicht ausschließlich auf das Schutzterrain der geschlossenen Behindertenkultur zurück. Kämpfen wir um unsern Platz im Mainstream-Kulturbereich. Das Klima dort ist rauher, aber die Erfolge auch vielversprechender. Wir tragen nämlich dadurch nicht nur zu unserer eigenen Emanzipation bei, sondern wir bereichern auch die traditionelle Kultur um neue Impulse, die diese so dringend nötig hat, wenn sie nicht in tödlichem Formalismus erstarren will.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.